Gestalt als Zeugnis – zu Beethovens letztem Klavierstück*

Die Apotheose der kleinen Sekunde: Eröffnung von oben – Zögern und Verhalten – Münden in den Schluß*

Das Stück umfaßt äußerlich 13 Takte, von innen her sind es 12, da es, im 2/4-Takt geschrieben, mit seinem Thema im zweiten Achtel des ersten Viertels beginnt und konsequent mit dem ersten Achtel des dreizehnten Taktes schließt, der aber durch die Fermate zu einem ganzen Takt auswächst, weshalb das erste Achtel des ersten Taktes auch mit einer Pause notiert wird. In diesem Zusammenhang ist zu vermerken, daß in allen Takten der Ober- und der Unterstimme ein Akzent auf dem zweiten Achtel im ersten Viertel des Taktes liegt, mit Ausnahme des sechsten Taktes in der Oberstimme, des (vom Anfang des Ganzen an gerechnet) fünften und siebten Taktes der Unterstimme und mit Ausnahme des letzten Taktes. Durch diese Bemerkung ist bereits auf ein Charakteristikum verwiesen: Es handelt sich um ein Stück mit Ober- und Unterstimme, die sich im Ansatz kanonisch zueinander verhalten, wenn sie auch nicht streng als Kanon durchgeführt [266] sind, wobei gerade die Freiheit in der Handhabung der Form, genauer: die Abweichung von der starren Gesetzmäßigkeit des Kanons, die innere Dynamik des Gesamten ausmacht. Ebenfalls hochbedeutsam ist, daß sich im zweitletzten und letzten Takt die Zweistimmigkeit zu einer Vierstimmigkeit erweitert, deren Art und Gestalt sich für die Aussage des Ganzen als von hoher Bedeutung erweisen werden.1

Im Blick auf die Polyphonie bzw. den Kanoncharakter ist zu bemerken, daß das Hauptthema ohne jedwede Abweichung vom Tonbestand nur insgesamt zweimal vorkommt, und zwar am Anfang in der Oberstimme (Takt eins bis drei, erstes Achtel) und in der Unterstimme in Takt neun bis elf (erstes Achtel). Außerdem kommt das Hauptthema von Takt drei bis fünf (erstes Viertel) mit geringfügiger Veränderung in der ersten „Antwort“ der Unterstimme auf die Oberstimme vor – als letzter Ton erklingt b0 statt g0 – sowie in dramatischer Veränderung der zwei letzten Achtel als Neueinsatz der Oberstimme in Takt acht (zweites Achtel) bis Takt zehn (erstes Achtel), wobei das letzte Achtel von Takt neun und das erste Achtel von Takt zehn in ihrer totalen Abweichung vom Thema, wie noch zu zeigen sein wird, einen der dramatischen Höhepunkte des Ganzen bilden. Bezüglich der kanonischen Bezogenheit der Stimmen ist noch zu vermerken: Während am Anfang die Wiederholung des Hauptthemas in der Unterstimme erst mit dem zweiten Achtel des Taktes drei, somit nach Ende des Hauptthemas und parallel zur zweiten Hälfte des Gesamtthemas der Oberstimme, einsetzt, ist ab Takt acht eine andere Bezogenheit zu beobachten: Das am Schluß veränderte Hauptthema fängt in der Oberstimme in Takt acht (zweites Achtel), in der Unterstimme in Takt neun (zweites Achtel) an. Der Kanon reicht hier also in das Hauptthema als solches bereits hinein.

Ein ähnliches Verhältnis betrifft die zeitliche Bezogenheit der kanonischen Parallelen zwischen dem ersten Motiv des Hauptthe- [267] mas (siehe unten), die das Geschehen vom zweiten Achtel des fünften Taktes bis zum Beginn des achten Taktes in der Oberstimme bzw. vom zweiten Achtel des sechsten Taktes bis zum ersten Achtel des neunten Taktes in der Unterstimme kennzeichnet. Hier wird die Tonhöhe des Motivs in sich und im Bezug der Stimmen aufeinander verwandelt: Das Motiv beginnt in der Oberstimme in Takt fünf mit as" statt mit es", in der Unterstimme darauf bezogen in Takt sechs mit d', in der Oberstimme wiederum mit g" in Takt sieben, bis in Takt acht (zweites Achtel) das Hauptthema wiederum in der Originalhöhe mit es" in der Oberstimme und in Takt neun (zweites Achtel) mit es' in der Unterstimme beginnt. Durch Modulation wird dabei der Halbtonschritt am Anfang des Motivs in Takt fünf beibehalten, in Takt sechs und sieben jedoch aufgegeben, ehe er sich wiederum in Takt acht und neun durch die tonartliche Bezogenheit restituiert. (2)

Ehe ich das Thema nun in sich aufsprenge und zeige, möchte ich noch einige kleine Hinweise geben, zunächst zum Rhythmus und dann zur Melodie. Der Rhythmus in diesem Abschnitt wie im ganzen Stück – das darf ich im Vorblick sagen – ist dadurch gekennzeichnet, daß es in diesem im Zweivierteltakt geschriebenen Stück kein Achtel gibt, das nicht in einer der zwei bzw. der vier Stimmen tatsächlich stets markiert wird. Es gibt keinen Achtelwert, bei dem nicht irgendein Ton erklingt: Es ist wie der Vorgang eines Erzählens, das sozusagen dauernd fließt. Es gibt zwar auch Viertelnotenwerte, aber eben nur im Mittelteil des Ganzen. Ebenfalls gibt es nur eine rhythmische Unterbrechung, nur eine Unterteilung des Achtels, die im Ganzen eine Rolle spielt, und das ist die punktierte Sechzehntel b mit der folgenden Zweiunddreißigstel a. Das ist die einzige Zusatzbelebung, die in diesen Rhythmus hineinkommt. Das sei nur einmal als solches vorausgeschickt.

Auch auf Folgendes ist hinzuweisen: Das Thema fängt nicht im Auftakt, aber auch nicht mit dem ersten Schlag des Taktes auf der vollen Zählzeit an, sondern es fängt mit dem zweiten Halbschlag an, also nicht am Anfang oder Ende des Taktes wie normalerweise, sondern mit dem zweiten Schlag. Der Anfang ist schon von daher Einstimmung. Das gibt es übrigens auch bei Fugen-Themen von Bach. Mir ist aufgefallen, daß dieser Anfang im [268] zweiten Achtel – also im zweiten Halbschlag – ebenfalls in zwei bedeutenden Kompositionen von Beethoven vorkommt: Das erste Thema des ersten Satzes der Symphonie Nr. 5 op. 67 in c-moll beginnt mit dem zweiten Achtel. Und wir haben das Gefühl, das sei doch ein Anfang. Es ist im Grunde ein Anfang im zweiten Achtel. Genau dasselbe Modell des Anfangs, ein Anfang in einen Atem hinein, finden wir ebenfalls in der 6. Symphonie F-dur op. 68 mit dem Beinamen „Pastorale“ im Thema des ersten Satzes:

In unserem kurzen Klavierstück finden wir also ebenfalls diese ganz merkwürdige Weise des Anfangs vor. Wie Beethoven das Stück beginnt, das ist schon bemerkenswert. Wenn ich schließlich darauf hinweise, daß das Stück auf der sechsten Stufe beginnt, dann kommt noch eine ganz merkwürdige Tatsache hinzu: Es ist ein Thema, das nicht auf dem Leitton oder auf dem Grundton, auf der Terz oder auf der Quint anfängt, also nicht innerhalb des Gefüges des Dreiklangs oder in unmittelbarer Beziehung dazu, sondern auf der sechsten Stufe. Mir ist aufgefallen, daß es einen solchen Anfang auf der sechsten Stufe, der zudem noch auf die fünfte Stufe hinweist, wenigstens noch einmal gibt, und zwar in derselben Tonart in g-moll bei der großen g-moll-Symphonie Nr. 40 KV 550 von Mozart. So beginnt der erste Satz dieser Symphonie: [269]

Wir werden mit diesem Umstand bei der näheren Auslegung noch sehr viel zu tun haben. Unser Klavierstück fängt also melodisch und rhythmisch da an, wo es eigentlich nicht anfängt. Es ist ein Einspringen in ein Gefüge, der Einsprung der als solcher einen überraschenden Anfang kennzeichnet. Von hier aus muß ich dann aber auch noch auf etwas hinweisen, das ganz zentral ist: [270] Was nämlich in diesem Thema passiert, ist die Apotheose der kleinen Sekunde. Die kleine Sekunde kommt nämlich einmal vor in der Eröffnung des Hauptthemas von oben, als Zögern und Verhalten, wie gerade ausgeführt. Dann aber erscheint sie auch als Federn in der Mitte und als Münden in den Schluß. Das sind die drei Grundfunktionen der kleinen Sekunde, dieses kleinsten Tonschritts innerhalb unserer Diatonik, die wir überhaupt haben.2


  1. (Anm. d. Bearb.) Klaus Hemmerle bezeichnet das Thema in der Oberstimme von Takt 1 bis Takt 5 (1. Achtel) nachfolgend als Gesamtthema. Dieses Gesamtthema unterteilt er wiederum in zwei Hälften: Die erste Hälfte reicht vom Anfang bis Takt 3 (1. Achtel) und wird von ihm als Hauptthema bezeichnet. Die zweite Hälfte des Gesamtthemas reicht von Takt 3 (2. Achtel) bis Takt 5 (1. Achtel). ↩︎

  2. (Anm. d. Bearb.) Klaus Hemmerle führt in diesem Zusammenhang weitere Beispiele aus der Musikliteratur an, für deren Thema im ersten Satz bestimmte Tonintervalle charakteristisch sind: z. B. die Quint   Oktav in der 9. Symphonie d-moll op. 125 und die große Terz zu Beginn der 5. Symphonie op. 67 von Beethoven. ↩︎