Gerechtigkeit besiegt Gewalt

Die Aufgabe der Kirche in Lateinamerika und unsere Aufgabe für sie.

Hier kommt der Kirche Lateinamerikas eine entscheidende Rolle zu. Sie ist gerufen, ein Beispiel dafür zu geben, was die wehrlose Macht des Evangeliums für den Menschen und die Menschheit vermag. Wer etwa die Dokumente liest, die die lateinamerikanischen Bischöfe bei ihrer II. Generalversammlung in Medellin verabschiedet haben, der wird bestätigen, daß hier die Aufgabe gesehen und mutig in Angriff genommen wird.

Aber – so werden hier manche einwenden – liegt hier wirklich eine rechtmäßige Aufgabe der Kirche? Ist es nicht gefährlich, die Kirche, die doch für alle da ist, zu politisieren? Wird sie nicht gerade dann um ihre Wirkmöglichkeiten gebracht, wenn sie sich in irdische, gesellschaftliche Verhältnisse einmischt? Man gibt gerne zu, daß es Aufgabe der Christen ist, in die Gestaltung der Gesellschaft einzugreifen, und daß sie hierzu der Hilfe und Wegweisung durch den Dienst der Kirche im ganzen bedarf. Aber die Kirche selbst, in ihrem unmittelbaren Wirken, möchte man draußen sehen aus dem Geschäft gesellschaftlicher und politischer Reformen.

Dieser Einwand hat sein Recht, er findet aber zugleich seine Grenze an der konkreten Situation in Südamerika. Genau darum geht es doch, daß die Christen zur Wahrnehmung ihres eigenen Auftrags, die Gesellschaft zu erneuern, auf- [s.p.] gerüttelt werden, daß ihnen ein Verstehen des Evangeliums erschlossen und eine Bildung ihres Bewußtseins vermittelt wird, die sie dazu befähigen, über das dumpfe Erdulden hinauszuwachsen und den Parolen blinder Gegengewalt nicht zu verfallen. Das Evangelium, das nach Südamerika zusammen mit der Kultur der Eroberer gelangte, muß übersetzt werden und ein volles Verständnis für den Menschen von heute ermöglichen, um ihn so zu befähigen, die Konsequenzen aus dem Evangelium in seinem sozialen Handeln zu ziehen. Dies kann nur gelängen in einem umfassenden Pastoralprogramm, das die personellen und sachlichen eigenen Möglichkeiten der Kirche in den lateinamerikanischen Ländern bei weitem übersteigt. Außer der Bewußtseinsbildung, die sich der modernen Kommunikationsmöglichkeiten bedienen muß, tut vor allem die Bildung von Gruppen not, in denen die Menschen der Isolierung entrissen und zur gemeinsamen Verantwortung befähigt werden. Das Feld, das zwischen dem Staat und dem einzelnen liegt, ist entscheidend für die weitere Entwicklung Lateinamerikas, und gerade in diesem Feld muß die Kirche anregend, fördernd, helfend tätig sein.

Wie sehr hier eine unmittelbare Aufgabe der Kirche liegt, wird dann deutlich, wenn man daran denkt, daß in Lateinamerika die Besitzenden und die Armen, die Herrschenden und die wehrlos Ausgelieferten zur selben Kirche gehören. Kardinal Araujo sagt dazu: Die „Einswerdung aller Christen ist so bedeutsam, daß sie gleichermaßen Voraussetzung und Ursache der Erlösung, Zeichen und Kriterium der Authentizität der Kirche wird: „ … damit die Welt glaube, daß du mich gesandt hast“ (Joh 17,21). Aber die menschliche Gesellschaft auf unserem Kontinent ist ein beredter Gegenbeweis zu dieser Prophezeiung des Herrn. Eine kleine Oberschicht bereichert sich weiterhin unbeirrt und klammert sich an weltlichen Profit, als sei dies das Höchste in ihrem Leben, während zur gleichen Zeit in derselben Gemeinschaft Millionen von Menschen in wachsender Armut leben. Dieser Zustand widerspricht dem Evangelium.“

Es ist ein Ausdruck dieser Situation, in der nur die Gerechtigkeit des Evangeliums von innen her die Gewalt zu besiegen vermag, wenn ADVENIAT seine diesjährige Aktion für Lateinamerika unter das Leitwort stellt: Gerechtigkeit besiegt Gewalt. Hielten wir uns draußen, würden wir das nur mit einer gedankenlosen kleinen Spende abtun, ginge das nicht mit uns in unsere Sicht der Welt, aber auch in unsere Gestaltung des eigenen Daseins hinein, dann wäre das nicht nur eine verpaßte Gelegenheit, es wäre Widerspruch zur Gerechtigkeit.

Es gibt nur die Alternative zwischen jener Gewalt, die dort wächst, wo man sie duldet, und jener Gerechtigkeit, die Liebe ist, die Liebe dessen, der sich verschenkt hat bis zum Blut. Der brasilianische Kardinal richtet an seine Mitbischöfe den Appell, „nur dann Entschlüsse zu fassen und Pläne aufzustellen, wenn gleichzeitig die Bereitschaft besteht, sie unter persönlichem Einsatz zu verwirklichen, selbst wenn dies Opfer verlangt“. Das ist der auf diesseitige und irdische Verhältnisse übersetzte Text des Wortes, das wir uns von Therese von Lisieux über den Himmel sagen ließen: Wir werden dort keinem gleichgültigen Blick begegnen, denn wir verdanken unsere Gnade einander.