Ist das Konzil schon angekommen?
Die Aufschließung der Konzilsbotschaft durch das Synodendokument
Ist aber – so kann kritisch zurückgefragt werden – wirklich dieser Gedanke des Mysteriums zentral und aufschließend für die Botschaft des Konzils insgesamt? Handelt es sich hier nicht um ein kostbares, aber einzelnes Motiv in der Kirchenkonstitution mit einigen Reflexen in anderen Dokumenten und einigen Parallelen in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute?
Die Außerordentliche Bischofssynode 1985 hat das Gegenteil erwiesen. Es war eine weise Vorentscheidung, ohne Ausblendung der anderen Konzilsdokumente doch das Augenmerk auf die vier zentralen Konzilstexte zu richten: die Dogmatische Konstitution über die Kirche, die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung, die Liturgiekonstitution.
[61] In diesen vier Konstitutionen nun entfaltet sich – nicht durch planerische Aktion der Konzilsväter oder Konzilstheologen von damals, sondern in jener inneren Dynamik des konziliaren Geschehens, das in seiner Gesamtheit doch die Züge des pfingstlichen Geistes trägt – der Grundansatz beim Mysterium dergestalt, daß daraus eine plausible Antwort auf die Problematik erwächst, die uns beschäftigt: Wie bestimmt sich die Beziehung Heilsbotschaft – Kirche – Welt?
Es ist nun die eindrucksvolle und plausible Leistung des Synodendokuments – und wir müssen hier wohl die beiden Namen des belgischen Kardinals Godfried Danneels und des deutschen Theologen Walter Kasper nennen –, daß ganz einfach auf die Weise der Gliederung des Dokuments sowie der Zuordnung der Einzelaussagen zu dieser Gliederung ein frappierend einfaches Grundmuster entsteht, in welchem das Konzil insgesamt zu lesen, seine Botschaft und sein Auftrag zu fassen sind.
Eine erste Grundperspektive gibt bereits die für das Dokument gewählte Überschrift: „Kirche – unter dem Wort Gottes – feiert die Geheimnisse Christi – zum Heil der Welt.“
Das Dokument selbst umfasst nun zwei Hauptteile, deren erster die Situation zu beschreiben und die Aufgabe, wie das Ereignis der Außerordentlichen Bischofssynode knapp wiederzugeben sucht. Der Titel: „Zentralthemen dieser Synode: Feier – Prüfung – Förderung des Zweiten Vatikanischen Konzils“ (S. 3). Die von uns hervorgehobene und für unseren Zusammenhang entscheidende Leistung des Dokuments folgt nun in dessen zweitem Hauptteil: „Besondere Themen der Synode“ (S. 7–22). Hier hebt es an mit jener ekklesiologischen Grundentscheidung des Konzils, die wir in die Mitte zu rücken. Am Anfang steht also der Abschnitt: „A. Das Geheimnis der Kirche“ (S. 7–10). Wenn dieses trinitarische und christologische, in Ostern zentrierte Geheimnis und Ereignis des Heils die Sache, das Lebensprinzip und die Lebensstruktur der Kirche ist, so hängt Entscheidendes davon ab, daß die Kirche auch aus den Quellen lebt, die ihr das Geheimnis des Ursprungs, Wesens und [62] Zieles als beständige Kraft und beständiges Licht gegenwärtig halten. Wie kann Kirche aus dem Geheimnis leben, das ihr geschenkt und aufgetragen ist?
So heißt denn der zweite Abschnitt: „B. Quellen, aus denen die Kirche lebt“ (S. 10–13). Diese Quellen sind konkret: das „Wort Gottes“ (S. 10–12) und „die heilige Liturgie“ (S. 12–13). Die Synode appelliert an die oft vernachlässigte und im Grunde doch höchst bedeutsame Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“, die uns den heute so dringenden Impuls zur neuen Evangelisierung und vorab zur Selbstevangelisierung der Kirche gibt (vgl. S. 11, II.B.a.2). Ebenso legt die Synode den Finger darauf, daß die Liturgiereform nichts bloß Äußerliches bleiben darf, sondern ihr Ziel hat „vor allem in innerer und geistlicher Teilnahme, in einer lebendigen und fruchtbringenden Teilhabe am österlichen Geheimnis Jesu Christi (vgl. SC 11)“ (S. 12f.). Die Grundfrage heißt also: Kann Verkündigung der Kirche und kann ihre Liturgie so erfahren werden, daß darin das Christusgeheimnis, das Ostergeheimnis, das Geheimnis dreifaltiger Liebe eindringt in Herz und Lebensraum, in Existenz und Vollzug der Menschen? Wie sehr diese Frage alte, formalistische Verkrustungen wie einen neuen Rationalismus oder Aktivismus aufbricht, liegt auf der Hand.
Wie aber wird Kirche, wenn sie durch Gottes Wort und Liturgie aus dem Geheimnis Gottes und Christi lebt?
Die Antwort gibt der dritte Abschnitt: „C. Die Kirche als ‚Communio‘.“ (S. 13–18). Dieser bedeutsame Abschnitt fängt an mit dem lapidaren Satz: „Die ‚Communio‘-Ekklesiologie ist die zentrale und grundlegende Idee der Konzilsdokumente.“ Communio – wir betonten es bereits – ist das unter uns Leben und Gestalt gewordene Leben des dreifaltigen Gottes, das uns der menschgewordene Sohn Gottes durch sein Kreuz und seine Auferstehung geschenkt hat. Ich wiederhole den Satz des heiligen Cyprian von Karthago, den er in der Auslegung der Vaterunserbitte „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ [63] formuliert: Kirche ist „das aus der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes geeinte Volk.“ Es ist der Schlüsselsatz des Kapitels über das Geheimnis der Kirche in „Lumen Gentium“ (LG 4). Muß die Liturgiereform gelesen werden aus der Frage, wie in der Liturgie das Mysterium eintrifft in unserem Leben und Vollzug, so müssen die strukturellen wie inhaltlichen Probleme der Kirche, jene, die ihre innere Konsistenz wie ihre Offenheit über sich hinaus betreffen, gelesen werden von diesem Grundsinn der Communio. Wie falsch die Alternative zwischen einem bloßen Wahren der hierarchischen Struktur oder einer soziologischen Anpassung der Struktur von Kirche an säkulare Grundmuster ist, wird von diesem Ansatz aus deutlich. Es ist nützlich, einfach einmal die sieben inhaltlichen Untergliederungen zu nennen, die das Thema „Die Kirche als ‚Communio‘“ erfährt: 1. Die Bedeutung von „Communio“ (S. 13f.); 2. Einheit und Vielfalt in der Kirche (S. 14); 3. Die Ostkirchen (S. 14f.); 4. Kollegialität (S. 15); 5. Die Bischofskonferenzen (S. 16); 6. Teilhabe und Mitverantwortung in der Kirche (S. 16f.); 7. Ökumenische Gemeinschaft (S. 17). Strukturprobleme werden durch den Appell an die Inhaltlichkeit, durch den Verweis auf das Mysterium also nicht vom Tisch geschoben, sie werden nur auf jenes Tischtuch gestellt, auf das sie gehören, auf das Tischtuch der Communio.
In der Mitte, im Aufbruch und Ursprung des Mysteriums, dem Kirche sich verdankt, steht die Leidenschaft Gottes für die Welt, für die Menschheit. „Lumen Gentium“, „Licht der Völker“ das ist der Christus, von dem aus alles, was von der Kirche zu sagen ist, gesehen und gesagt werden muß. So mündet das Synodendokument sozusagen in seine Zielgerade mit dem vierten Abschnitt: „D. Sendung der Kirche in der Welt“ (S. 18–22). Die Nähe des innersten Geheimnisses Gottes zur Welt, einfach weil Gott Liebe ist und weil er nur aus Liebe diese Welt geschaffen und erlöst hat und weil diese Welt so zu nichts anderem als zur Liebe bestimmt sein kann, aber auch die Spannung zwischen dieser Liebe, die sich und alles gibt, und einer Welt, die sich und alles aus sich selbst und allein zu vollbringen sucht, dies ist die Dramatik im [64] Weltverhältnis der Kirche. „Gaudium et spes“ wird hier durchaus bestätigt (S. 18, II.D.1.); aber schärfer als in diesem Dokument wird eine Theologie des Kreuzes (S. 19, II.D.2) unterstrichen, zumal angesichts der Abgründe und Schatten, die deutlicher als vor 20 Jahren heute sich mit einer sich selbst überlassenen Fortentwicklung unserer neuzeitlichen Industriekultur verbunden zeigen. Wenn über „Aggiornamento“ (S. 19), „Inkulturation“ (S. 19f.), den Dialog mit den nichtchristlichen Religionen und den Nichtglaubenden (S. 20), die Option für die Armen und die menschliche Entwicklung (S. 20f.) gesprochen wird, dann hält sich die leitende Perspektive durch: Kirche als die Übersetzung der dreifachen Botschaft von der Menschwerdung Gottes, von Kreuz und Auferstehung Christi, von der dreifaltigen Liebe.
Fassen wir den Weg des Synodendokuments zusammen: Am Anfang steht das Geheimnis des dreifaltigen Gottes, das im Geheimnis der Menschwerdung durch das Geheimnis des österlichen Weges vom Kreuz zur Auferstehung sich uns schenkt und erschließt. Dieses Geheimnis ist das Warum und Wozu, das Was und das Wie der Kirche. Es eröffnet sich ihr, gerinnt in ihr zum Leben durch das Wort Gottes und die Feier der Geheimnisse in der Liturgie. Daraus erwächst der Kirche als Vollzug und Struktur, als Auftrag und Lebensrhythmus die Communio. Diese Communio aber ist nicht Selbstzweck, sondern Übersetzung des Geheimnisses in die Welt, Durchdringung der Welt mit dem Geheimnis, Lebensgemeinschaft der Kirche mit der Welt, auf daß die Welt mit dem Gott und in dem Gott zu leben vermag, der sie liebt.
Man könnte dem Dokument vorwerfen, es fordere, die Kirche solle nicht soviel von sich selber sprechen, dabei spreche es selber andauernd von der Kirche. Ich glaube, daß dieser Vorwurf gerade nicht sticht. Denn hier lernt Kirche so von sich zu sprechen, daß sie nicht von sich, sondern von Gott und von der Welt spricht. Und dies ist ein Maßstab auch für uns.