Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Die Begrenzung der Frage

Horizont und Richtung unserer Frage an den späten Schelling nach Gott und dem Denken geben dieser noch nicht ihre endgültige Kontur. Sie will sich als Frage des Mitdenkens verstehen. So hat sie [19] aber das Maß ihres Mitdenkens nicht nur an Schelling und an sich selbst zu nehmen, sondern auch auf die Stimmen zu achten, die bereits zum selben verlautet sind.

Deren sind es zwar recht viele, zumal seit den für die heutige Forschung zweifellos bahnbrechenden Arbeiten von Horst Fuhrmans1. Einen äußeren überblick über alle einschlägigen Veröffentlichungen zu geben, erübrigt sich jedoch, da wir über eine ausgezeichnete Bibliographie der Veröffentlichungen bis 1954 verfügen2; sie darf durch das reiche Literaturverzeichnis im Schellingbuch von Walter Kasper3 als auf den gegenwärtigen Stand gebracht gelten. Die nähere Durchsicht hält, bezüglich der grundsätzlichen und umfassenden Fragen unserer Thematik, bei zwei bedeutsamen Interpretationen der Spätphilosophie Schellings inne, die für die endgültige Fassung und Durchführung unserer Frage im vorhinein eigene Beachtung und Auseinandersetzung fordern. Es sind dies das philosophische Buch von Walter Schulz : „Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings“4 und das theologische von Walter Kasper: „Das Absolute in der Geschichte“5.

Walter Schulz unternimmt es – man darf, seine Gesamtintuition in Anschlag bringend, sagen: als erster –, Schellings Spätphilosophie von dem her aufzuschließen, was in ihr „gedacht“ ist. Er entdeckt und erweist, daß hier nicht ein großer Denker, seiner Gedanken überdrüssig geworden, sich rational undeutlichen Spekulationen überließ, die sich der im Denken nicht aufgehenden Seiten der Wirklichkeit annehmen und in Gnosis, Mystizismus oder Glaubensphilosophie münden, sondern daß hier gerade und genau der Gedanke, in welchem sich das Denken denkt, in sein ihm entzogenes und so ihn doch gewährendes Ende denkt. Der genannte Titel seines Buches ist also polemisch zu verstehen, und wer denkend ins Denken [20] der Schellingschen Spätphilosophie einkehrt, um ihr die Chance zu geben, sich als Denken darzustellen und nicht sich in eine lose Textur von Motiven, Einflüssen und militanten oder senilen Fixiertheiten ihres Autors aufzulösen, wird sich dem Zug der Deutung von Schulz nicht leicht entziehen können: Schellings Spätphilosophie ist sich zu Ende denkendes und so Gott sich als Voraussetzung zuvordenkendes Selbstdenken, der Gott Schellings ist die dem Denken in seinem Ausgang aus sich allein entzogene Selbstvermittlung, ist absolute „Subjektivität“.

In unmittelbarem Einstieg des Mitdenkens mit Schelling und somit im Zuge unabhängig von Schulz angesetzter Analysen desselben Gedankens wird unsere Untersuchung sich weithin mit den Ergebnissen von Schulz decken.

Gleichwohl bleibt ein doppelter Unterschied, der unseren eigenen Weg der Frage und seinen Ertrag abhebt, ohne daß dieser Weg in äußerer Auseinandersetzung mit Schulz verliefe.

  1. Schulz konzentriert seine spekulative Aufmerksamkeit ausschließlich auf den genannten Gedanken der Selbstvermittlung der Vernunft, auf die Vollendung der von ihm einheitlich gesehenen Thematik der Philosophie des deutschen Idealismus. Was der Gedanke Schellings in dieser Hinsicht leistet, erschöpft für Schulz auch, was er will. So aber kommen die qualitativ anderen Anstöße Schellingschen Denkens nicht zum Vorschein. Gewiß vermittelt Schelling diese Anstöße, das „existentielle“ Interesse am göttlichen Gott, die „ästhetische“ Bewegtheit seines Denkstiles etwa, in den spekulativen Gang hinein, dessen Architektur Schulz aufzeigt. Doch die Differenz zwischen Anstoß und Anspruch einerseits und Mitteln und Ertrag gedanklicher Bewältigung anderseits wird im genannten Ansatz der Schulzschen Deutung eingeebnet oder zumindest verkürzt6. Der Leidenschaft Schellings, Gottes Freiheit zur Schöpfung und die Positiva Schöpfung, Fall, Erlösung als unableitbar in seiner positiven Philosophie zu begreifen, wird ein solches Verständnis nicht voll gerecht7.

  2. [21] Nicht nur Schellings Spätphilosophie, sondern auch die anderen großen Gestalten nachidealistischen Denkens und die·Versuche denkenden Neueinsatzes beim „Miteinandersein“ reduziert Schulz auf die Problematik der Selbstvermittlung der Vernunft, die er als die leitende des deutschen Idealismus gewahrt8.

So kannn einerseits bei Schulz die Tendenz Schellings nicht tragend werden, die auf ein „anderes“ Verständnis von Geschichtlichkeit und Dialog hindrängt, als es die Selbstreflexion der Vernunft eröffnet, und kann anderseits die bleibende Differenz der Schellingschen Denkbemühung zu einem solchen „neuen Denken“ – um ein programmatisches Wort Franz Rosenzweigs zu nennen9 – in seiner Deutung nicht thematisch werden.

Der maßgebende Unterschied unseres eigenen Versuches, den späten Schelling zu verstehen, liegt also im methodischen Vorsatz des „Mitdenkens“ beschlossen: Solches Mitdenken versucht dem Gedanken in sich selbst offen zu sein, in den das mitgedachte Denken sich verfaßt, ebenso offen aber auch den „qualitativen“ Anlässen, die sich in seine Struktur verfassen und in ihr vielleicht gerade nicht aufgehen; um sich als Mitdenken aus anderer geschichtlicher Situation wissend, bringt es zugleich aber auch die Gewärtigkeit dessen mit, daß Wahrheit auf unableitbar vielfältige und nur im Gespräch sich entbergende Weise aufgehen mag, die nicht mehr systematisch hinter das „Zwischen“ der Beziehung solchen Gespräches zurückgeführt werden kann.

Die Hinsicht, die unsere Frage nach Gott und dem Denken vom Buch von Walter Kasper : „Das Absolute in der Geschichte“ abhebt, ist anders gerichtet; sie ist nicht „polemisch“ angeschärft und doch durch dasselbe Stichwort des „Mitdenkens“ gekennzeichnet.

Die umfassende Kenntnis der Philosophie Schellings, aber auch aller erdenklichen Linien philosophischer und theologischer Tradition, mit denen sie in Vorgang oder Folge ihrer selbst verknüpft ist oder doch konvergiert, und das hohe Verständnis des Gedankens [22] selbst reihen Kaspers Werk ein unter die wichtigsten Interpretationen des späten Schelling.

Gleichwohl ist es ebensosehr oder noch mehr ein theologisches Buch. Wie fällt vom idealistischen Denkansatz und wie von seiner vollendenden Überwindung auf ein Denken der Geschichte und des Dialogs zu Licht auf das von gegenwärtiger Theologie Auszurichtende? Wie werden hier angebahnte Denkmöglichkeiten dem von der christlichen Botschaft Gemeinten möglicherweise neu gerecht und geschichtlich gerechter als klassisch-herkömmliche, auch wenn dem ersten Blick die Entsprechung zum Dogma und seiner Offenbarungsgrundlage verborgen bleiben müßte? Diese Fragen sind der innere Anlaß des Werkes, dessen äußerer Ertrag vieles vom geistes- und theologiegeschichtlichen Kontext seines Themas klären hilft.

Die Aufgabe, die Kasper notwendig bei solchen Unternehmen übrigläßt, ist die des unmittelbaren Mitdenkens des Gedankens Schellings an ihm selbst, seiner immanenten philosophischen Problematik, der philosophische Austrag der Spannung zwischen dem, was Schellings Gedanke will, und dem, was er leistet10. Was Kasper am späten Schelling bewegt, ist indessen daselbe, was unser Mitdenken bewegt: der Aufbruch des Denkens zu Geschichtlichkeit und Mitsein, der sich hier eigentümlich anzeigt11.

Nachdem Walter Schulz die philosophische „Vorgeschichte“ der letzten Philosophie Schellings in seinem früheren Denken im Abstoß von Fichte und Hegel und in der Differenz vom sog. Spätidealismus12 und zudem Walter Kasper die theologisch relevanten Aussagen und Zusammenhänge der Schellingschen Spätphilosophie erhellt haben, bestimmt sich von ihnen her nicht nur der Riditung, [23] sondern auch dem Umfang nach die endgültige Fassung unserer Frage nach Gott und dem Denken in Schellings Spätphilosophie: Sie beschränkt sich auf den Gedanken des späten Schelling selbst, und zwar auf seinen philosophischen Ansatz in der Hinsicht auf Gott und das Denken, unter Verzicht auf die Erklärung seiner Einzelaussagen zu theologischen Themen.

In solcher Begrenzung erhält also der Versuch unseres Mitdenkens seine Frage endgültig auf den Weg zuerteilt: Wie denkt der späte Schelling auf den göttlichen Gott zu das sich selbst erdenkende Denken und wie von diesem Denken her den göttlichen Gott? Aus dieser Frage an den späten Schelling aber fällt ans mitdenkende Denken selbst die Frage zurück: Wie muß das Denken Denken sein, damit sich ihm der göttliche Gott antun könne, und was kann das fürs Denken heißen: der göttliche Gott tut sich ihm an?


  1. Vgl. die Zusammenstellung bei W. Kasper, Das Absolute und die Geschichte (Mainz 1965) XV, bes.: Schellings letzte Philosophie (Berlin 1940) und: Schellings Philosophie der Weltalter (Düsseldorf 1954). ↩︎

  2. G. Schneeberger, Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Eine Bibliographie (Bern 1954). ↩︎

  3. Das Absolute und die Geschichte, X–XXVIII, s. auch St. Portmann, Das Böse – die Ohnmacht der Vernunft (Meisenheim 1966) 165/66. ↩︎

  4. Stuttgart 1955. ↩︎

  5. Mainz 1965. ↩︎

  6. Vgl. die zutreffende Kritik an Schulz von W . Kasper, a. a. O. 122/24, und von W. Schmied-Kowarzik, Analogie – Dialektik – Dialog, in: Philosophisches Jahrbuch, Band 74/II (München 1967) bes. 419/20. ↩︎

  7. So treffend Schulz (a. a. O. 156) zeigt, was der Gedanke Schellings zur Schöp- [21] fung de facto begriffen hat, so offenkundig “unterbietet“ doch seine Wertung des Schellingschen Interesses an der Freiheit der Schöpfung (235/37) Schellings Intention und Bemühung. ↩︎

  8. Vgl. 236/37, bes. Anm. sowie den 4. Teil seines Buches im Ganzen (271–306). ↩︎

  9. Vgl. Das neue Denken, in: Kleinere Schriften (Berlin 1937) 373–398. ↩︎

  10. Zum Buch von Kasper siehe den Beitrag von W. Schmied-Korwarzik, Analogie – Dialektik – Dialog, a. a. O. 419–428 im Ganzen. ↩︎

  11. Hierzu auch die Aufsätze: M. Theunissen, Die Dialektik der Offenbarung. Zur Auseinandersetzung Schellings und Kierkegaards mit der Religionsphilosophie Hegels, in: Philosophisches Jahrbuch, Band 72/I (München 1964) 134 bis 160, bes. 159/160 Anm. 46; sowie in etwa derselbe, Schellings anthropologischer Ansatz, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Band 147/2 (Berlin 1965) 174–189; ferner : W. Schmied-Kowarzik, Analogie – Dialektik – Dialog, a. a. O.; ders., Marx – Kierkegaard – Schelling, in: Schelling-Studien, Festgabe für Manfred Schröter (München 1965) 193–218. ↩︎

  12. Vgl. Schulz, a. a. O. 96–186 im Ganzen. ↩︎