Glauben – wie geht das?

Die Bergpredigt

Das Ethos der anbrechenden Gottesherrschaft wird wohl am schärfsten in der Bergpredigt nach Matthäus (5,1–7.29) konturiert. Es kann uns hier nicht um ihre Gesamtinterpretation, nicht um die Analyse ihres Aufbaus, nicht um die ethische Aufarbeitung ihrer Einzelheiten gehen. Wir wollen an ihr ablesen, wie das Leben jener zweifältig-unteilbaren Liebe zu Gott und den Nächsten in der Situation des anbrechenden Gottesreiches, in der Situation somit auch unseres christlichen Lebens geht.

Ein paar Beobachtungen an der äußeren Struktur der Bergpredigt können dabei hilfreich sein. Bei Matthäus hat die Bergpredigt zwei konzentrische Hörerkreise: einmal, unmittelbar um Jesus herum die Jünger, sodann um die Jünger herum die Menge des Volkes. Zunächst wendet sich Jesus an die Jünger in den acht Seligpreisungen (5,3–12). Die Situation der Spannung, der Differenz zum erfüllenden und ersehnten Heil wird hier unmittelbar angesprochen, die nahe Erfüllung und Erlösung durch die kommende Gottesherrschaft angesagt. Auf diese zielt der gesamte Zusammenhang, wie vor allem der breite Abschnitt über die falsche und die rechte Sorge dartut (6,19–34); von nun an gilt nur noch die Sorge um die Herrschaft Gottes, alle andere Sorge wird unnütz, aber auch unnötig.

Unmittelbar an die Jünger richtet sich auch das Wort vom Salz der Erde und vom Licht der Welt (5,13–16). Das weist auf ein Ziel der Bergpredigt hin: Die Jesus nachfolgen, sollen das leben, was er ihnen ansagt. Darin geschieht bezeugender Reflex der Herrschaft Gottes von unten, vom Menschen aus. Was Gott von sich her tut, das sollen die Jünger von sich her mittun, ans Licht heben. Vollzogene Ethik Jesu erhellt die Mächtigkeit und Wirksamkeit der anbrechenden Gottesherrschaft.

Nichtsdestoweniger geht die Bergpredigt im ganzen alle an, bietet sie keineswegs nur eine Spezialanweisung für einen engeren Kreis. Gerade der dreifache Anlauf auf das Ende und das Nachwort weisen daraufhin: a) Jesus weist in seiner Rede den schmalen Weg, der einzig zum Leben führt (7,13f.). b) Er macht unmissverständlich [58] klar, daß keine allgemeine Sympathie und kein Lippenbekenntnis zu ihm zählen und auch keine Tat, die in seinem Namen vollbracht würde, ohne daß sie erfüllt wäre mit dem lebendigen Glauben. Nur das gelebte Leben, nur die Frucht des in Leben übersetzten Willens des Vaters gilt (7,15–23). Um in der heranbrechenden Zeit der Krisis zu bestehen, gibt es keine andere Möglichkeit, als das Haus des eigenen Lebens auf das Fundament zu bauen, das Jesu Botschaft und Anruf legt (7,24–27).

Und die Menge bezieht das Gesagte in der Tat auf sich; denn – so die abschließende Rahmenleiste des Evangelisten – sie ist bestürzt über seine Worte, da er lehrt wie einer, der Vollmacht hat und nicht wie die Schriftgelehrten (vgl. 7,28f.).

Vollmächtige Rede, nicht Auslegung des bereits Gesagten durch dafür zuständige Fachleute, sondern ein neues Wort von Gott her: darum geht es in der Bergpredigt.

Doch nun: was sagt dieses vollmächtige Wort? Heben wir aus der Fülle des in ihr Zusammengefaßten ein Dreifaches heraus, sozusagen drei Verdichtungen des grundlegenden Imperativs, das Leben nunmehr von Gott her zu leben und neu zu sehen.

Keine Reservate mehr Gott gegenüber

Damit wir in die Herrschaft Gottes, ins Himmelreich eintreten können, fordert Jesus von uns eine Gerechtigkeit, die größer ist als jene der Schriftgelehrten und Pharisäer (vgl. Mt 5,20). Dieses „größer“ meint „radikaler“, und dieses „radikaler“ heißt: ohne Reservate und Vorbehalte.

In den fünf Exempeln, die verhandelt werden – das Töten, der Ehebruch, die Ehescheidung, das Schwören, die Vergeltung, die Nächstenliebe (Mt 5,21–47) – findet Jesus im gängigen Verhalten eine falsche Trennung vor: Bis hierhin fordert der Wille Gottes etwas von dir, jenseits dieser Grenzmarke setzt dein Freiraum ein, das „neutrale“ Gebiet, in dem du es halten magst, wie es dir gefällt. Töten darf ich nicht – aber wie ich von dir denke, wie ich über dich rede, das ist meine Sache. Die Ehe brechen darf ich nicht – aber wo- [59] hin meine Blicke und Gedanken schweifen, das fällt nicht ins Gewicht. Meinen Nächsten soll ich lieben – aber wenn einer mir feindselig kommt, dann hat er das Recht des Nächsten verwirkt.

Gegen solches Denken nun geht Jesus entschieden an. Gott ist der Gott des ganzen Menschen, des ganzen Lebens. Deswegen haben auch die Regungen meines Herzens, haben auch meine privaten und persönlichen Einstellungen, hat auch mein Verhalten zu dem, der mir nicht liegt oder mir Böses getan hat, etwas mit meinem Verhältnis zu Gott zu tun. Die Sonne Gottes steht nun so am Himmel, daß dadurch der ganze Raum meines Innern und meiner Welt ausgeleuchtet ist. Gottes Licht durchdringt alles. Schon jetzt fängt das an, was die Geheime Offenbarung vom Ende sagt: Es gibt kein anderes Licht, keine andere Sonne mehr in der heiligen Stadt, sondern Gott und das Lamm sind ihr Licht (vgl. Offb 21,22ff.). Alles wird in diesem Licht durchsichtig, es gibt keine finsteren Winkel und Ecken mehr, die ausgespart wären von Gottes erhellender Nähe. Die Beziehung zu Gott wird universale Beziehung – er allein ist alles in allem, doch gerade so erhält alles einen neuen und unvergleichlichen Wert. Wenn Gott so im Zenit steht, dann kann ich meine Gabe ihm nicht darbringen, solange mein Bruder etwas gegen mich hat, ohne daß ich mich mit ihm versöhnt habe; und ich kann ebensowenig die Liebe, die Gott auch meinem Gegner entgegenbringt, diesem vorenthalten (vgl. Mt 5,23f.44–48).

Wir verstehen von hierher besser, was uns schon die klassische Moraltheologie sagt: es gibt nicht zwei Lieben, eine Gottesliebe und eine Nächstenliebe, sondern nur die eine und unteilbare Liebe, die Gott und dem Nächsten zugleich gilt. Wer Gott nicht liebt, liebt auch den Nächsten nicht und umgekehrt. Eine Sonne, die nicht nach allen Seiten ihre Strahlen sendet, ist eben nicht mehr die Sonne. Die vorbehaltlose Radikalität der Bergpredigt ist atemberaubend, erschreckend. Aber sie ist mehr noch befreiend. Wir werden befreit von unserem andauernden Messen mit zweierlei Maß, von unserer doppelten Moral. Das Leben wird einfach, so einfach, wie Jesus es im anderen Kontext der Sorglosigkeit sagt. Wenn wir uns nur noch um Gottes Reich kümmern, dann können wir alles von ihm [60] erwarten und dürfen sein wie die Lilie und der Vogel (Mt 6,25–34).

Wir haben nur noch eines zu tun: je neu, in jedem Augenblick auf Gott zu schauen und alles in seinem Licht zu sehen. Das Leben wird sehr aktiv, sehr weltzugewandt – und bleibt in allem doch Kontemplation. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Angestellten, der nach harter Arbeit des Tages jeden Abend seine Betrachtung vor dem Tabernakel hielt. Ich fragte ihn, wie er die Umstellung schaffe. Er sagte: Im Grunde geht es einfach; wenn ich den ganzen Tag über in meinen Nächsten dem Herrn begegnet bin, dann kann ich mit ihm auch in der Eucharistie ohne zuviel Mühe weiterreden.

Die lautere Innerlichkeit

Einen zweiten Aspekt desselben entfaltet Matthäus im 6. Kapitel (bes. 1–18). Alles steht im Licht Gottes, aber gerade darum hat das bloß Äußerliche keinen Wert mehr. Was zählt, ist die Gesinnung, ist das Innere, ist das Herz. Da ist keine Innerlichkeit gemeint, die sich nicht ins Werk, nicht in die Tat umsetzte. Gemeint ist vielmehr jene Lauterkeit, die sich nicht um den äußeren Effekt, nicht um die Fassade kümmert, sondern damit ernst macht: Gott sieht ins Verborgene, Gott sieht ins Herz (vgl. Mt 6,4.6.18).

Wir sprachen von Kontemplation; doch Kontemplation beginnt nicht damit, daß wir auf Gott schauen, sondern daß er auf uns schaut. Er sieht in uns hinein, in jede Falte unseres Inneren. Und wir haben nur darauf zu schauen, daß er uns sieht. Sehen, daß ich von ihm gesehen bin, sehen, daß dies allein zählt – dies ist der befreiende Durchstoß in die Wahrheit, die sich vor nichts Äußerem mehr scheut, dies der Durchstoß auch in jene Sorglosigkeit, die am Ende des 6. Kapitels zum Thema wird (Mt 6,19–34).

Mit Gott leben ohne Vorbehalt, leben im Blick auf Gottes Mich-Anschauen, diese beiden Schritte eines absolut offenen, absolut durchsichtigen liebenden Lebens mit Gott mitten in der Welt und für die Welt, das sind Grundschritte der Ethik Jesu. Gewiß [61] Schritte, die auch vom Ansatz des Alten Testamentes her erreichbar sind, Schritte aber, die jetzt, in der Ära des anbrechenden Gottesreiches, nicht mehr Spitze ethischer Anstrengung, sondern unmittelbarer Vollzug geglaubten Glaubens sind, eines Glaubens, der freilich nur geht, wenn unser Leben ein beständiges Mitgehen mit Jesus in seiner Nachfolge, in seinem Wort ist; anders gewendet: wenn wir also die Umdrehung und Umstellung unseres Lebens von uns her aufs Leben von Gott her je neu vollziehen.

Gelassenheit: nur Gott Gott sein lassen und darin sein wie er

Scheinbar nichts Neues bringt eine dritte Stufe, und doch tritt in ihr das Neue zutage. Uns umstellen auf das Leben von Gott her, uns anschauen lassen von ihm und sehen, daß er uns sieht; die Schranken einreißen, bis zu denen hin wir seinen Willen anerkennen, und unsere Reservate, unsere „Freiräume“ erfüllen lassen von seinem Anspruch und von seinem Licht: das heißt doch einfach Gott Gott sein lassen. Ein Gott, mit dem ich mein Leben halbiere, ist selbst nur ein halber Gott und so kein Gott. Ein Gott, der mich nicht sähe, wäre ein blinder Gott und wiederum kein Gott; ein Gott, der seine Sache tut und mich mir selbst überläßt, wäre jedenfalls nicht der Gott, der in die ganze, lebendige Gemeinschaft mit mir hineindrängt, nicht jener Gott der Gottesherrschaft, die Jesus ansagt.

Das Neue tut er: Er kommt auf mich zu, er tritt in mein Leben ein, er sagt mir in Jesus über all mein Ahnen, Berechnen und mein Recht hinaus zu, daß er mir gut will, daß er mir nahe sein will. Ich habe nur dies anzunehmen und ihn meinen Gott sein zu lassen.

Doch wenn ich das tue, so wird diese „Selbstverständlichkeit“ zur Überraschung, zum Abenteuer. Gott Gott sein lassen heißt gewiß, ihm jegliches Recht einräumen. Den Gott der Gottesherrschaft, den Gott Jesu meinen Gott sein lassen, das aber heißt: mich beschenken lassen mit einer grenzenlosen Gelassenheit.

Diese Gelassenheit hat drei Strophen. Sie heißen Sorglosigkeit – davon sprachen wir bereits –, Verzicht aufs Richten (vgl. Mt [62] 7,1–5), unbedingtes Vertrauen, unbefangenes Bitten des guten Vaters (vgl. Mt 7,7–11). Der Verzicht aufs eigene Urteil macht damit ernst, daß eben nur er Gott ist. Nur ihm steht es zu, ins Innerste meines Nächsten zu schauen, ich muß diesen innersten Punkt der Welt, der das Herz des Menschen ist, dafür freilassen, daß Gott allein hier eindringt. Und ich kann diesen Bereich auch freilassen. An mir ist das Lieben, etwas vom andern zu wissen, ist nur nützlich, sofern ich dadurch ihn gemäßer lieben, ihm besser gerecht werden kann (vgl. auch 1 Kor 4,3; Röm 2,1ff.; 1 Kor 6,1ff.). Verzicht aufs Urteil über den Nächsten ist die innerste Reinheit des Herzens und die vielleicht sensibelste Form der Anbetung des allein göttlichen Gottes. Bitten aber, das darum weiß, daß wir empfangen, kindliches Vertrauen, das von dem, der sich uns selber gibt, auch alles andere erwartet, ist Siegel der Freiheit der Kinder Gottes.

Gott Gott sein lassen, dies ist jedoch erst die negative Seite der Gelassenheit und so erst das Vorletzte in der neuen Ethik Jesu. Der solchermaßen gelassene Mensch wird in der Tat, gerade weil er leer ist von sich selbst, weil er Gott allein Gott sein läßt, zum Spiegel des Gottes, der sein Licht, der sich selbst grenzenlos uns mitteilt, der sich selbst auf- und hineingehen läßt in unsere Welt und unser Leben. Als Spiegel werden wir „Licht der Welt“, lösen wir jenen anfänglichen Appell der Bergpredigt an die Jünger ein (Mt 5,14–16). Dann aber schlägt sich der Bogen zum Positiven, zu jener Spitze der Bergpredigt: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie (weil) auch euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48). Sein, wie Gott ist! Uns so von ihm erfüllen lassen, daß er selbst aus uns und in uns aufgeht! Das Maß Gottes unser eigenes Maß werden lassen: dies ist die Ethik Jesu.

Auch hier fehlt nicht die Anknüpfung im Alten Testament. Doch was dort Spitze ist, wird hier Grund. Das Ganze wird auf diese Spitze gestellt. Nicht im Sinn einer systematischen Ableitung, nicht im Sinn eines dauernden Wiederholens dieser Forderung – aber von der inneren Dynamik der Botschaft Jesu her. Gottes Wille soll geschehen – will sagen: soll sich durchsetzen, soll seine Mächtigkeit erweisen – wie im Himmel so auf Erden. Das Reich der Himmel, das [63] Reich Gottes, die Herrschaft Gottes, das Leben Gottes kommt zu uns und will unser Leben werden. Christliches Leben ist „Praxis des Himmelreiches“, Praxis des in Jesus offenbaren, die Welt durchdringenden göttlichen Lebens. Das „Wie“ ist ein Grundwort des Neuen Testamentes. In Jesus ereignet sich vielfältig die Gleichung zwischen dem verborgenen Leben Gottes und dem Leben dieser Welt. Dies ist Offenbarung, dies Heil, dies Einbruch des Endgültigen, eben Kommen der Gottesherrschaft.

Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Aussage, daß wir vollkommen sein sollen, wie und weil der Vater im Himmel vollkommen ist. Es ist eine Aussage, die uns zur universalen Liebe aus der Haltung der Gelassenheit ermahnt. Wie Gott seine Sonne aufgehen und seinen Regen niederfallen läßt auf Gerechte und Sünder, wie er in seiner Liebe nicht reagiert, sondern den Anfang setzt, der die Engführungen unseres guten oder bösen Verhaltens sprengt, so sollen wir den je neuen Anfang machen aus der Gleichmütigkeit Gottes, aus dem je neuen ersten Schritt einer je zuvorkommenden, sich nie erschöpfenden Liebe. Das elementare Umfangensein unserer Menschenwelt von Gottes Handeln in der Schöpfung wird zum Bild dafür, wie Gott nun geschichtlich, im Anbruch seiner Herrschaft, handelt: Seine Liebe setzt den vom Menschen unabhängigen, aus seiner eigenen Hoheit aufbrechenden neuen Anfang. Sein Anfang ruft den unsern, in unserem „ersten Schritt“ vollbringen wir Gottes vorgängigen „ersten Schritt“ – hier berührt die Bergpredigt jene johanneische Ethik, die sich im Neuen Gebot verdichtet.