Berufung

Die besondere Berufung

Der neue Adam, Jesus Christus, ist nicht nur Exempel der neuen Menschheit, er ist die neue Menschheit, weil wirklich wir in ihm sind, er uns angenommen, in realer Stellvertretung uns übernommen hat. Darin gründet die allgemeine und gemeinsame Berufung zur Nachfolge und damit zur Heiligkeit und Vollkommenheit, wie er heilig und vollkommen ist. Doch diese Stellvertretung, diese Identifikation mit der Menschheit geschieht gerade nicht in einer Abhebung von unserer realen Geschichte, sondern mitten in ihr. Dadurch hat Jesus uns getragen und übernommen, dadurch ist er alle, daß er ein einziger und einzelner ist, einer neben uns. Nur so ist er in allem uns gleich, nur so können wir als die einzelnen und einzigen, die wir selber sind, von ihm her und mit ihm leben. Dies hat aber auch eine weitreichende Konsequenz für christliche Berufung. Es gibt nicht nur die allgemeine Berufung, sondern die je eigene und einzelne eines jeden von uns. Was willst du von mir? Wohin rufst du mich? Nie fehlt eine der drei Grundrichtungen, nie fehlt eines der Momente der Berufung. Aber was dies jeweils bedeutet, dies läßt sich gerade nicht deduktiv ermitteln, sondern nur im konkreten Leben mit dem rufenden Herrn erschließen.

In einem Bild gesprochen: Von dem einen Zentrum, von dem her, der zugleich Ruf, Gerufener und Antwort ist, führt [39] zu jedem von uns eine einmalige, unvertauschbare Linie. Und doch liegen diese Linien nicht kommunikationslos nebeneinander, sondern es gibt verschiedenartige Zusammengehörigkeiten des Rufs der einzelnen. Wir können hier nicht entfalten, wie etwa verschiedene geistliche Familien, verschiedene auf eine Spiritualität oder eine Aufgabe bezogene Berufungen in einem übergreifenden Ruf zusammenhängen und wie dieser Zusammenhang zugleich den einmaligen Weg eines jeden umfängt. Wohl aber müssen wir den Blick auf eine vom ersten Augenblick christlicher Existenz her konstitutive Grundgestalt von Ruf lenken: Leben, für dessen Gestalt es kein anderes Warum gibt als den rufenden Herrn. Nochmals: Der Herr ruft jeden. Und viele ruft er, damit sie im Weitergehen von Welt und Zeit bis zu seiner Wiederkunft die Gestalt dieser Welt, das Leben in ihr durchdringen und verwandeln durch seinen Geist und so ihm, dem Wiederkommenden den Weg öffnen.

Sie sind Menschen, die anders haben, anders ihr Lebenskonzept einrichten, anders in Ehe und Familie stehen, anders Gemeinschaft stiften und gestalten als jene, die ihr Leben nicht von der Liebe des Gekreuzigten und von der Hoffnung auf Ostern her leben. Der Herr selbst aber hat an seinem Leben und Sterben augenfällig Gestalt werden lassen, was er verkündet hat: daß Gottes Reich nahe ist, das Reich, in dem wir bei Gott sind, in dem Gott bei uns ist und in dem wir mit ihm in unserer Mitte beieinander sind. Jungfräulich hat er dem Vater allein – und so gerade allen – gehört, ihm allein gehorsam, entäußert in die letzte Armut, in der radikalen Einsamkeit die neue Gemeinschaft, das neue Gottesvolk gründend. Und nun ruft eben der Herr Menschen auch dazu, daß sie dieses kommende Reich darstellen an ihrem Leibe.

Das „Gebrochene“, Fragmentarische, Unvollständige ihrer Existenz weist daraufhin, daß da noch einer mit im Spiel ist, daß man den anderen Teil ihres Lebens nicht sieht – und [40] doch ist er da und hält und gewährt die Menschlichkeit, ja die Ganzheit, das Heilsein und Freisein dieser bruchstückhaften Lebensgestalt. Er hat sich für mich gebrochen, damit ich und damit wir alle ganz seien. Er ist durch diesen Bruch für uns und mit uns hineingegangen in die Ganzheit seines österlichen Lebens – mich hat er gerufen, in dem Anteil an der Gebrochenheit seiner Kreuzesexistenz die Realität der österlichen Hoffnung zu bezeugen, die durch den Geist schon jetzt verborgen Gegenwart wird. Ich bin nur verstehbar als Antwort; wer mich so stehenläßt, wie ich bin, der versteht mich nicht – oder mein Leben wird ihm zur Frage, die ihn vorstoßen läßt in den Ruf. Und so bezeuge ich gerade in der Unverständlichkeit meines Lebens in sich das Leben aus einem anderen und für einen anderen.

Niemand hat radikaler – es erübrigt sich, die Linien auszuziehen – diese Ganzheit im Fragment gelebt als Maria, durch die der Herr in diese Welt kam. Jungfräuliche Mutterschaft aus Gehorsam, beschenkt werden mit dem Sohn Gottes, um ihn zu verlieren und mit leeren Händen nichts anderes mehr zu erwarten als Pfingsten – das ist ihr Weg. In ihr ist Kirche, sind wir alle; in ihr ist der Weg der Gerufenen auf Christus zu und von ihm her zugleich zusammengefaßt, in ihr ist aber auch die Berufung zur Vollkommenheit der Liebe in der Unvollkommenheit der Lebensgestalt, zum reinen Ganzen in der reinen Vorläufigkeit und Leere anschaubar.

Maria ist und bleibt die Vorgeschichte des kommenden Christus. Alle, die berufen sind, diesen Kommenden mit ihrem Leben zu bezeugen, finden sich in ihr.

Es gibt freilich noch eine andere Berufung, die fundamental in der ihren mitumfaßt, konkret von der ihren unterschieden ist: die Berufung, die lebendige Nachgeschichte des gekommenen Christus zu sein. Er ruft Menschen, damit sie ihm nachfolgen, auf daß er sie alsdann sende. Er greift nach ihnen, [41] damit sie ihn, den Gekommenen, bezeugen und seinen Ruf weitertragen. Grundgestalt solcher Berufung sind die Apostel. Sie sind Gerufene, um den Ruf weiterzutragen. Sie haben die Aufgabe, den Weg bis an die Enden der Erde und der Zeit auszuschreiten, den der Herr in seinem österlichen Kreuzweg bereits gegangen ist und so den Ruf zu allen hinzutragen. Sie haben die Aufgabe, das Volk Gottes zusammenzurufen, auf daß die vielen Gaben und Dienste sich ergänzen im einen Leib; sie haben den Herrn selber gegenwärtigzusetzen, indem Gottes Volk das Opfer des Lobes darbringt; sie stehen im Namen Christi und im Namen aller vor dem Angesicht des Vaters.

So aber vereint sich ihre Stimme mit der Stimme Mariens, mit der Stimme der Braut, zum kommenden Herrn: „Komm, Herr Jesus, komm!“ (Vgl. Offb 22,17).

Auch wenn bei den Aposteln selbst noch nicht die umfassende Deckungsgleichheit zwischen ihrer Berufung und jener der evangelischen Räte eingeholt ist, die das kommende Gottesreich in der Lebensgestalt als einer solchen bezeugt, so ist doch das Verlassen und Aufgeben, so ist doch die innere Dynamik der kommenden größeren Wirklichkeit, die uns alles aus der Hand schlägt, was wir festhalten, so ist doch die atemberaubende Radikalität der Nachfolge das Vorzeichen vor ihrem Leben. Und wir müssen uns die Frage gefallen lassen, ob wir nicht gerade in einer Zeit, in der Worte vom Reich Gottes als Worte zur Fremdsprache zu werden drohen, noch schärfer als früher auf die Sprache des Lebens, der Lebensgestalt verwiesen sind, um Gottes Herrschaft anzusagen und seinen Ruf weiterzugeben. Wer den gekreuzigten Herrn verdeutlicht und in ihm den kommenden Herrn in den Blick rückt durch den Dienst der Verkündigung, wer dazu bestellt ist, das Opfer darzubringen und zum Mahl einzuladen, in welchem der Tod des Herrn verkündet und seine Auferstehung gepriesen wird, bis er wiederkommt in Herr-[42] lichkeit, wer mit seinem Leib und seinem Herzen den ungeteilten Dienst an allen tun, die Einheit aller im einen Herrn gewährleisten soll: steht dem nicht wie auf den Leib geschnitten jene Gestalt des Lebens zu, die ihren Sinn und ihre Plausibilität allein von der gekreuzigten Liebe Jesu und von Gottes kommendem Reich bezieht? Es ist der Treue der Braut Kirche zu ihrem Bräutigam Christus angemessen, wenn sie seinen Ruf zum priesterlichen Dienst in solcher Gestalt auch und gerade heute verkündet und zur Darstellung bringt. Allerdings müssen wir uns fragen lassen, ob wir als Priester nicht mitunter den inneren Zusammenhang des Ganzen der Nachfolge, aller ihrer Momente und Richtungen, selbst verdunkeln, so daß die Leuchtkraft und Anziehungskraft dieses Rufes in die Krise gerät.