Gestalt als Zeugnis – zu Beethovens letztem Klavierstück*

Die Bewegungen des Hauptthemas und seiner Umkehrung: Aufstieg als Abstieg – Abstieg als Aufstieg*

In der Ergänzung der beiden Bewegungen des Hauptthemas und seiner Umkehrung liegt der Schlüssel für das Gesamtgeschehen. (2) Bei unserer Komposition ist sehr interessant, daß eine Polyphonie, also eine nicht streng fugierte und auch nicht streng kanonische, aber doch eine Zweistimmigkeit besonderer Art vorliegt. Es ist so, daß in der ersten Stufe, also in der Grundgestalt mit es-d beginnend, dieses Hauptthema viermal wiederkehrt. Und zwar so, daß es in der Oberstimme zweimal integral als Gesamtthema, also aus Hauptthema und der Umkehrung bestehend, erscheint – beim zweiten Mal allerdings wie gesagt mit Abbreviatur des verminderten Septakkords – und einmal integral in der Unterstimme, von Takt neun (zweites Achtel) bis Takt zwölf (erstes Achtel), allerdings unter Auslassung des ersten Motivs der Umkehrung, des verminderten Septakkords. (1) In den Takten fünf (zweites Achtel) bis acht (erstes Achtel) wird das erste Motiv des Hauptthemas in beiden Stimmen kanonisch fortgesponnen: Die erreichte Erhebung, die Stillung nach oben, wird mit dem Grundmotiv der geöffneten Hand umspielt, die, als solche thematisiert, sich in einem jähen Ruck innerhalb des achten Taktes wieder in ihrer Ausgangsposition befindet. Das Spiel beginnt von vorne. Hierbei ist die Rhythmik in den Takten fünf bis acht von hohem Belang. In Takt fünf und sieben in der Unterstimme und in Takt sechs in der Oberstimme, antwortend und wiederum auslösend, finden sich ganz einfach zwei ausgewachsene Viertel, während sich das gesamte Stück sonst aus Achtelnoten und insgesamt fünfmal aus der federnden Punktierung (punktierte Sechzehntel und eine Zweiunddreißigstel) b-a zusammensetzt. Diese federnden Töne sind übrigens immer nur b-a! In Takt acht wird aber die organische Erwartung abgebrochen, daß das erste Achtel der Oberstimme ein Viertel bleibe und dann im dritten Achtel weiter als Viertel nach unten steige. Stattdessen beginnt mit einem jähen Schlag in Takt acht im zweiten Achtel der Ober- [275] stimme das Thema neu. Die Unterstimme verharrt dabei als Viertel auf der zweiten Achtel.

Von großem Interesse ist nun, wie gesagt, die Wiederholung des Themas in der Oberstimme ab Takt acht (zweites Achtel). Hier wird im letzten Achtel des neunten Taktes nicht etwa das dritte Motiv des Hauptthemas weiter und zu Ende geführt, sondern der Sprung von b' auf fis' statt auf a' eröffnet plötzlich die Umkehrung. Wie aber geht die Bewegung vom Ende der Umkehrung weiter? Über dem erreichten Endpunkt wird, von oben her, nochmals die Federung des Hauptthemas, das zweite Motiv (b" – a' – b") wiederholt. Daran schließt sich das ausgelassene dritte Motiv des Hauptthemas in schwebender Höhe an: b" – a' – g" (drittes und viertes Achtel von Takt elf und erstes Achtel von Takt zwölf), während in der Unterstimme, wie schon betont, das Ende der Aufstiegsbewegung, das zweite Motiv der Umkehrung vom tiefsten Punkt des Ganzen aus erfolgt. Also mündet es im Paradox: Abstieg in der Höhe und als Höhe, Aufstieg im Unten. Wenn sich die beiden Bewegungen des Hauptthemas und der Umkehrung (in Ober- und Unterstimme) im ersten Achtel von Takt zwölf im g treffen, ist die Gleichung erreicht: Aufstieg als Abstieg, Abstieg als Aufstieg. (2)

Die Zweistimmigkeit dieses Stückes hat meiner Meinung nach eine sehr vielsagende Dramatik an sich. Nachdem zu Beginn des Stückes erst nach dem Ende des Hauptthemas in der Oberstimme die andere Stimme einsetzt, verschieben sie sich, ab Takt acht in der Oberstimme beginnend und in Takt neun in der Unterstimme antwortend, ineinander, die Kanonik ist also eine strenge Kanonik, so daß in der Mitte schon die Wiederholung einsetzt. Dann aber folgt das höchst Interessante, daß dieser jeweils responsorische Grundcharakter, in dem ein Thema dem anderen folgt, plötzlich am Schluß vom Nacheinander in die Parallele geschoben ist, daß also hier am Schluß die Wiederholung des Hauptthemas, zuvor in beiden Stimmen mit es-d nacheinander beginnend (Takt acht bzw. neun), schließlich in eine parallele Stimmführung einmündet (Takt zwölf und dreizehn), eine Stimmführung, die zudem noch von der Parallele zweier umfassender Töne gehalten ist, so daß nacheinander das Wechselhafte, das sich Auswechselnde, das sich gegenseitig Rufende am Schluß in eine Versöhnung [276] der Gleichzeitigkeit, des Miteinanders mündet. Und diese Versöhnung wird eingefangen von zwei weiteren Stimmen. (1) Die Höhe haltend, gehen die beiden Melodiestimmen doch in parallelen Terzbewegungen – statt in einer Kanonbewegung – nach unten, aber sie sind vom oberen g" und vom unteren g' (oben mit Leitton fis') gehalten. Die beiden sich korrespondierenden Hände gehen parallel, legen sich aber in umgreifende, haltende, oben und unten vermittelnde und verbindende Hände. (2)

In der Harmonie scheint sich zunächst gar nicht besonders viel zu ereignen. Die Harmonie ist ganz und gar nach klassischen Gesetzen gehalten. Wir können feststellen, daß die Harmonik kaum Reibungen hat. Sie hat am Schluß eine Reibung, insofern zum fis" am Ende des zwölften Taktes in der Oberstimme nicht etwa die Banalität begangen und unten auf das a' gegangen wird, sondern g' bleibt, und damit die kleine Spannung der großen Septime erfolgt. Ansonsten gibt es nur am Anfang des achten Taktes noch die Spannung des c' zu d", sonst ist fast alles versöhnt in Terz, Sext, verminderter Sept oder Oktav. Spannendes wie eine große Septime oder eine Sekunde gibt es demnach nur an diesen beiden Stellen, so daß das Entscheidende in der Dynamik des Verhältnisses der beiden Stimmen liegt und nicht in einem immanenten harmonischen Material. Bemerkungen zum Rhythmus habe ich im Grunde schon gemacht, indem ich betonte, daß es immer nur dieses Federnde b-a-b gibt, sonst Schlag auf Schlag Achtel aufeinander folgen. Nur einige Viertelnoten stehen in der Mitte, sind aber immer in der anderen Stimme durch Achtel unterbrochen.

Schließlich aber muß ich über den Gang als ganzen etwas sagen. Der Ablauf des Stückes beginnt zunächst mit einem ruhigen Exponieren der Oberstimme. Der Charakter der zweiten Stimme wird als einer nur zweiten deutlich, als einer, die die erste trägt. Sie hat ihre Eigenständigkeit, aber – ich möchte sagen – auffangende, begleitende Eigenständigkeit, die in der Harmonik in Takt vier und fünf (b0-a0-b0-h0) deutlich wird. Nachdem aber nun das Thema abgeschlossen ist, passiert ganz einfach folgendes: Es wird in der Höhe umspielt (Takt fünf bis acht). In diesem Spiel gerät es wiederum plötzlich in den Anfang (Oberstimme, Takt acht, zweites Achtel). Es bekommt den Riß nach oben. Und auf der ersten Achtel von Takt elf ist die ganze Geschichte [277] in dem Kampf zwischen Abstieg und Aufstieg scheinbar gewonnen. Aber gerade hier ist nicht das Ende des Stückes erreicht, obwohl die untere Stimme nach unten sinkt, um zu bleiben: Jetzt kommt die Entscheidung.

Nachdem das Ganze gelaufen scheint, geht es weiter, indem die Oberstimme im Oben schwebt. Der gesamte Rahmen der tonalen Weite wird plötzlich aufgesprengt, indem dreieinhalb Oktaven tiefer (Takt elf) unterhalb der Oberstimme nun als Aufstiegsmotiv das zweite Motiv der Umkehrung erscheint. Aber auch danach ist das Stück noch nicht zu Ende. Es erfolgt vielmehr ein Aufstieg der Unterstimme aus der Tiefe, um dann – wie in einem Kristall – im Oben zu bleiben.

Es ist ein Aufstieg, aber in dem Aufstieg der Unterstimme – und das ist das Paradoxe – geschieht ein Fallen. Das Thema fällt am Ende ins Oben. Und es steigt daraufhin ins Unten. Das Interessante ist die Inversion, daß das Aufstiegsthema, das in der Urgestalt den höchsten Platz erreicht, nun in der äußersten Tiefe ist und daß das Fallthema, das ursprünglich auf den unteren Grundton zurückführt, hier nun gehalten bleibt im Oben: Ein Steigen ins Unten und ein Sinken ins Oben. Das ist die Inversion, die die beiden Stimmen am Ende erfahren. Und das ganz Merkwürdige besteht darin: Es ist nicht ein triumphaler Aufstieg, es ist nicht ein resignativer oder sich ergebender Abstieg, sondern es ist ein Steigen ins Unten, um ins Oben zu sinken. Und dieses Sinken ins Oben wird in der Parallele der beiden Stimmen gehalten von dem stabilen Grundton der dritten und vierten Stimme als Rahmenstimmen, die wie ein Kristall unsere beiden Stimmen jetzt in sich schließen.

Bei der letzten Priesterweihe habe ich einen ehemaligen Pianisten geweiht, der gerade vorher dieses Stück gespielt hatte. Ihm gegenüber konnte ich diese Inversion der Stimmen in ein Bild fassen. Ich habe ihm gesagt: „Wenn Sie bei dem Gestus des Versprechens Ihre beiden gefalteten Hände mir geben und ich meine Hände um die Ihren lege, dann denken Sie – und ich werde auch daran denken – an die beiden letzten Takte dieses Klavierstücks. Es ist, wie wenn diese Parallele der beiden gefalteten Hände sich von zwei anderen umschlingen läßt.“