Was heißt Glaubenssituation

Die Bezugsrichtungen zwischen Glauben und Situationen*

Das Profil von Glaubenssituation läßt sich nochmals anders zeichnen, wenn wir das Ineinander göttlicher Gnade mit menschlicher Freiheit in allen drei aufgezeigten Schichten (der Freiheit des einzelnen, der gemeinsamen Freiheit, der äußeren Determinanten der Freiheit des einzelnen und der Gemeinschaft) voraussetzen, ohne es zu thematisieren, und nur die Bezugsrichtungen zwischen Glaube und Situation ausdrücklich machen. Zuerst zeigt sich: Glaube ist situationsenthoben, denn er ist Sache des Selbstverhältnisses, nicht der Fremdbestimmung. Nur so wird er als Glaube erfahren. Er geht vom je einzelnen aus, er will vom „Überschuß“ seines Selbstseins über alle äußeren Erklärbarkeiten und Zusammenhänge hinaus gesehen werden. Gleichwohl kommt er – dies ein zweites Moment – aus einer Tradition des Glaubens auf ihn zu. Glaube setzt sein Angebot, seine Bezeugung, seine Objektivationen voraus, um motiviert zu werden und um zu seiner je konkreten Gestalt zu finden. Glaubenssituation besteht also darin, daß und wie dem einzelnen Glaube in seiner Welt vor- und zukommt, daß und wie Glaube eine geschichtliche Möglichkeit jeweiligen Inneseins in Welt und Gesellschaft ist; Glaube ist in concreto also situationsbedingter Glaube. Ein drittes Moment: Glaube ist situationsbedingender Glaube. Ob und wie einer glaubt, dies prägt seine Daseinsgestalt und damit das, was von ihr auf andere und aufs Ganze ausstrahlt. Der Glaube eines jeden verändert insofern die Glaubenssituation, weil die Erfahrbarkeit dessen, wie Glaube sich gibt, weil die Objektivationen des Glaubens, das Angebot des Glaubens sich je danach ändern, wie Glaube sich im Dasein der Glaubenden inkarniert. Die dem Glauben des einzelnen vorgängigen Objektivationen des Glaubens aus der Geschichte her (Kirchen, die schon stehen, Gebete, die schon gebetet werden, Dogmen, die schon geglaubt werden) erhalten ihren konkreten Stellenwert für den Glauben aus der Weise ihrer jeweiligen Rezeption und Interpretation durch den geschehenden Glauben, werden Momente seiner Wirkung über sich hinaus. Eine vierte Dimension: Anspruch und Angebot des Glaubens sind je eingebettet in das Gesamt der Ansprüche und Angebote, die menschliches Leben bestimmen. Sie stehen im Kontext einer Gesamtsituation. Ihr Verhältnis zu den anderen Ansprüchen und Angeboten, die als solche erfahren werden oder in den scheinbar wertneutralen Erfahrungen der Welt und des Lebens eingefaltet sind, hat mannigfache Gestalten von Konsonanz, Dissonanz und Konkurrenz. Diese Gesamtsituation wiederum ist nicht nur auf den einzelnen zukommende, sondern auch von ihm mitbestimmte, reproduzierte Situation. Wie also der einzelne seinen Glauben lebt, dies bestimmt die Gesamtsituation des Daseins anderer, und wie er – auch in den nicht spezifisch als religiös erscheinenden Bereichen, etwa Konsum, Sprache, Leistung – sich gibt, das bestimmt auch die Glaubenssituation anderer mit.