Unterscheidungen
Die Dialektik des religiösen Vollzugs*
Nehmen wir diesen religiösen Vollzug zunächst nun einmal als Gegebenheit, wenden wir uns unmittelbar ihm zu. Um seine Struktur zu erhellen, empfiehlt es sich, entsprechende Fragen an ihn zu richten, wie sie zuvor an den theoretischen, ästhetischen und ethischen Grundakt gerichtet worden waren. Auf diese Weise können sich die Eigenart, aber auch die Vergleichbarkeit des religiösen Grundaktes erschließen.
Wohin tendiert der religiöse Grundakt? Was will er? Die Antwort kann nur in doppelter Richtung gegeben werden. Sie lautet: Verherrlichung und Heil. Es kommt im religiösen Akt dem Selbst ganz auf das heilige Geheimnis an. Es kommt ihm dabei aber gerade auch auf sich selber an, und beides läßt sich nicht trennen. Der Schwerpunkt des Aktes ist so ein doppelter: das heilige Geheimnis – das Selbst. Dies rührt indessen nicht aus einer inneren „Spaltung“ des Aktes als solchen her, sondern aus seiner eigentümlichen Struktur. Am Anfang des religiösen Aktes steht nämlich nicht das Selbst, der religiöse Akt ist nicht zuerst sein Akt. Den Anfang setzt vielmehr das heilige Geheimnis. Es geht dem Selbst von sich her auf, es geht das Selbst von sich her an. Das Selbst wird (in einem fundamentalen Sinn) „ergriffen“. Seine Hinwendung zum heiligen Geheimnis ist Antwort. Sie ist es auch dann, wenn das heilige Geheimnis als abwesend, als entzogen erfahren wird: Gerade der Entzug offenbart die Magnetkraft des heiligen Geheimnisses auf die Existenz, die dadurch in ihre Unruhe, in die Leidenschaft ihres Suchens und Fragens gezogen wird. Ebenso hat wiederum das heilige Geheimnis das letzte Wort: In seiner Zuwendung, in seiner Gabe oder seinem Gericht mündet der religiöse Akt. Kennzeichnend für ihn ist also nicht nur die Schwerpunktverdoppelung, sondern die Schwerpunktverlagerung: Das Gewicht des heiligen Geheimnisses [69] liegt, beanspruchend, rufend, beschenkend, auf dem menschlichen Selbst; das Gewicht des menschlichen Selbst liegt, verherrlichend, verhoffend, verdankend, im heiligen Geheimnis. Die Gangart des religiösen Aktes kann so von seinen beiden Polen her als ein „Sich-Verlassen“ bezeichnet werden. Der Mensch „verläßt sich“ auf das heilige Geheimnis, aber auch das heilige Geheimnis, wiewohl in sich bleibend, in seiner überlegenen Unberührtheit, „verläßt sich“, geht über sich hinaus, ereignet sich ins menschliche Dasein hinein.
Darin ist freilich schon mitgesagt, was mit dem Subjekt im religiösen Akt geschieht. Es ist durch und durch davon bestimmt, daß, fundamental betrachtet, der religiöse Akt gar nicht nur ein Subjekt hat, sondern zwei Subjekte: nicht nur, ja nicht einmal zuerst das menschliche Selbst, sondern zuerst und zuletzt das grundlegende, das sich zueignende heilige Geheimnis. Im menschlichen Subjekt bewirkt dies ein totales Von-Sich-Wegsein und darin gerade ein konzentriertes Bei-Sich-Sein. Die Wegwendung des Selbst zum heiligen Geheimnis ist – nicht aus versteckter Absicht, sondern aus sich ereignender Gewähr – Wegwendung hinein in die Hinwendung des heiligen Geheimnisses zu ihm. Ich bin angegangen und gerade darin von mir weggerissen, bin von mir weggerufen, darin gerade „da“. Die „Stimmung“ des menschlichen Subjektes im religiösen Akt ist somit Koinzidenz von Leidenschaft und Gelassenheit, von Betroffenheit und über mich selbst hinaushebender Begeisterung.
Der Grundcharakter des religiösen Aktes im ganzen ist seine absolute Verbindlichkeit, der aber die Jeweiligkeit, ja Einmaligkeit des ganz konkreten Ereignisses entspricht. Auch wenn religiöser Vollzug sich als „Treue“ versteht, ist diese Treue jetzt gefordert, bin ich jetzt gehalten, den Entzug des heiligen Geheimnisses auszuhalten und mich darin von ihm ausgehalten zu glauben. Die Verbindlichkeit wird freilich nicht nur durch das „Je jetzt“ verwandelt, sondern dialektisch zugleich auch dadurch um-be-stimmt, daß ihr die „Gelöstheit“ des Selbst von sich selbst entspricht: Alles kommt auf mich an, aber gerade darauf, daß ich es nicht auf mich, sondern auf das heilige Geheimnis ankommen lasse.
Alle Fragen, die sich bislang an den religiösen Vollzug stellten, [70] führten zu dialektischen Antworten. Der Dialektik des doppelten Ursprungs, der doppelten Bewegung, des Zugleich von Verbindlichkeit und Gelöstheit, der Stimmung des Selbst im religiösen Akt entspricht zuletzt auch die Dialektik dessen, was wir das „heilige Geheimnis“ genannt haben, jener den religiösen Vollzug auslösenden und vollendenden unbedingten Gewähr, von der alles ausgeht, auf die alles zugeht, auf die alles ankommt. Sie ist das im religiösen Vollzug Offenbare, das ihn Übermächtigende und Ermöglichende, sie ist zugleich das ihm je – wie die Quelle dem, was ihr entspringt – Entzogene. Diese Gewähr kann nicht „festgestellt“ oder festgehalten werden, sie kann nicht zur Möglichkeit meines Mitspielens und Mitschwingens gemacht werden, sie ist aber auch nicht nur die geltende und nie zu erfüllende Norm, die als der obschon überlegene und uneinholbare Maßstab immer zur Hand wäre. Sie ist weder nur der Garant alles Wahren noch nur Gestalt, die alle Gestalten in ihre unbedingte Spitze versammelt, noch nur norma normans alles Geltenden und Bindenden. Sie ist also anderer Art, sie ist also „entzogener“ als jene – sagen wir einmal: „transzendentalen Antlitze“ des Seins, die in den transzendentalen Grundakten, dem theoretischen, ästhetischen und ethischen, verborgen bestimmend zugegen waren. Und doch gilt von dieser unbedingten Gewähr nicht nur, daß sie entzogener, es gilt von ihr zugleich, daß sie konkreter zugegen sei. Denn es ginge ohne weiteres an, die transzendentalen Grundakte „in sich“ zu analysieren, in ihrem Spiel zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Selbst und dem, was ist. Das die jeweilige Bestimmung Unterscheidende und Stimmende, das Subjekt und Objekt jeweils Versammelnde konnte als solches „indirekt“ bleiben. Beim religiösen Vollzug geht dies nicht mehr an. Er hat im Grunde keine „Objekte“. Zwar kann auch er sich an allem möglichen, an allem, was ist, entzünden, begreift er „Himmel und Erde“ mit ein. Doch sein Woraufhin ist immer die unbedingte Gewähr als solche. Was immer „sonst noch“ ist, kommt vor allein als die Stätte oder der Ausdruck ihrer Epiphanie, als ihre Gabe oder als das ihr zu Lassende und zu Opfernde. So entbirgt sich die unbedingte Gewähr als in ihrem Sich-Gewähren [71] entzogen und als in ihrer Uneinholbarkeit und Unverfügbarkeit nahe und gewährt. Sie ist das je Unberührbare, darin aber Berührende, das allem Verfügen Unzugängliche, darin aber allmächtig Angehende. Dies nun rechtfertigt es, ja ernötigt es, ihr im Kontext des religiösen Vollzugs den Namen des Heiligen zuzuerkennen.