Unterscheidungen

Die Dialektik von Fragestruktur und Sinnstruktur*

Die Analyse der drei Strukturen menschlichen Transzendierens weist uns indessen auf einen eigentümlichen Bruch hin. In sämtlichen drei Strukturen geht es um alles, was ist; in sämtlichen drei Strukturen geht es zugleich letztlich um Unbedingtes. Beides hängt aneinander, ist aber nicht auseinander abzuleiten.

Es geht jeweils um alles, was ist: die Strukturen des Transzendierens haben also transzendentalen Charakter. Die Sorge kann nur gestillt werden, wenn sich verläßlich kundtut: Es wird alles gut, nichts mehr kann dem im Wege stehen, das Dasein gelingt. Menschliche Sorge, die in ihre wahren Maße hineinfindet, gibt sich nicht mit beruhigenden Einzelauskünften zufrieden; sie blickt aufs Ganze des Daseins, auf alles, was ist. Kommunikation sucht grenzenloses Verständnis und Einverständnis in allem und mit allen, will sie gelingen. Die Intensität dessen, was mich bewegt und mir Maß gibt, ist derart, daß sie mit nichts mehr verrechnet werden kann, daß alles, was ist, nur noch gilt und besteht angesichts des einen, worauf alles ankommt.

Solche Transzendentalität nährt sich daraus, daß es in allem jeweils um eines geht, um den unbedingten Sinn, um die unbedingte Zusage, um den unbedingten Anspruch. Nur wo dieser Sinn, diese Zusage und dieser Anspruch nicht mehr relativiert werden können, kommt die Bewegung des Daseins in die Identität mit sich selbst. Dieses eine, das dem menschlichen Dasein unbedingt gilt, ihm un- [30] bedingt Halt und Maß gewährt, ist aber, als unbedingt, nicht produziert oder deduziert aus menschlichem Vermögen. Das wird besonders deutlich, wo der Mensch Rechenschaft darüber ablegen muß, daß die Gestalt des Sinnes, zu der er sich entschließt, wahrhaft trage. Die Grundfigur seiner Apologie lautet da: Nicht nur ich meine und will das so, es ist so in Wahrheit! Von sich aus auf mich zu und deswegen für mich unbedingt erhebt sich der Sinn, das Maß, der Halt, an denen ich mich orientiere. Die Bewegung des menschlichen Daseins ist so nicht nur transzendental, sie geht aufs Transzendente, will sagen auf jenes, das von sich her und nicht nur vom Menschen her und nur darum auch vom Menschen her und für ihn unbedingt ist.

Sind dann aber nicht doch der transzendentale und der transzendente Zug des menschlichen Transzendierens miteinander verklammert? Zweifellos. Und doch fallen sie nicht miteinander zusammen. Wenn etwa die Sorge in das Unherstellbare, in die „Zukunft“ hineinfragt, so hat sie zwar den Horizont des „Alles“ bei sich; aber sie vermag es nicht aus sich zu entscheiden, ob dieser Horizont „leer“ bleibt oder ob sich in ihm der Sorge erfüllender „unbedingter“, nicht mehr relativierbarer Halt bietet. Und wenn Kommunikation danach strebt, alle einzubeziehen, so kann der sich Mitteilende doch gerade nicht darüber verfügen, daß in der universalen Mitteilung an alle sich der solche Mitteilung erfüllende Sinn selbst eröffne und mitteile. Wenn schließlich alles an dem einen, das seinen unbedingten Anspruch und Zuspruch an den Menschen richtet, gemessen wird, so wird gerade daran sichtbar: Aus allem läßt sich nicht dieses eine herausrechnen, aber umgekehrt hängt an diesem einen alles.

So laufen quer durch die gezeichneten drei Strukturen zwei andere, die menschliches Verhalten prägen: die Fragestruktur und die Sinnstruktur. Was dem Menschen unmittelbar gegeben ist, muß er sich je vermitteln in den Grund hinein, der es ihm gewährt. Und jeder Grund, jede Auskunft über einen Grund, der das, was gegeben ist, trägt, müssen nochmals vermittelt werden, die Bewegung des Fragens kennt von innen her kein Ende. Darin zielt sie freilich auf [31] ein Letztes und Äußerstes, das allem und gerade auch der Bewegung des Fragens Grund bietet, damit sie nicht in sich zusammenbricht. Doch kann nicht das Fragen als solches, von der Immanenz seiner Fragestruktur her, diesen Grund einfachhin postulieren. Die Frage kann nicht aus sich selbst die Gewißheit ihres sie tragenden Grundes gewinnen, auch wenn sie als Frage auf mehr als auf einen nur formalen Grund ihrer Ermöglichung hin zurückfragt. Anders ausgedrückt: Die Frage fragt nach einem letzten Sinn und kann nur von ihm her fragen. Daß dieser Sinn sich ihr jedoch zusagt, ist nicht ihr Ergebnis, sondern ihr Ereignis. Sie ist von der Gabe des Sinns ins Fragenkönnen gezeitigt, sie kann aber nicht auf die Weise der Reduktion sich als Selbstvollzug dieses Sinns, als die implikative Gestalt des Unbedingten verstehen, aus der dieses nur expliziert zu werden brauchte, um ihr „sicher“ zu sein.

Die Sinnstruktur ist so die „Umkehrung“ der Fragestruktur, die diese trägt, die aber nicht als gewährte und erfüllte aus ihr abgeleitet werden kann. Die Fragestruktur ist entsprechend die Umkehrung der Sinnstruktur, in der diese sich ins menschliche Dasein hinein vermittelt, ohne in solcher Vermittlung bereits ihre Erfüllung dem menschlichen Dasein zuzusagen. Daß Frage zum unbedingten Sinn finde, daß das Überschreiten von allem, daß der „transzendentale Weg“ menschlicher Welt- und Selbsterhellung die Transzendenz erreiche, springt nicht als Ergebnis aus der Analyse der Fragestruktur als solcher heraus. Frage muß vielmehr zur Anfrage werden, die ihre Antwort nicht aus sich erstellt, sondern an sie gerichtet findet – mag sie, als Anfrage, auch erkennen, daß sie ihrerseits schon je nur ermöglicht ist aus einem sie gründenden und rufenden Anspruch. Weiter als die Frage trägt so das Gespräch, in dem die Frage anfragt bei dem sie gründenden und vollendenden Anspruch und Zuspruch.