Die Wahrheit Jesu
Die Differenz Jesu
Theophanie Gottes in Jesus – hier stößt der Gedanke spontan in verschiedene Richtungen. Zunächst vielleicht zu jenem Wort des Johannesprologs: Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater (Joh 1,14). Und mindestens genauso rasch zur Aussage des 2. Korintherbriefes, die von der Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz des Gekreuzigten spricht (vgl. 2 Kor 4,6). Doch nicht nur die doxa des auferweckten oder des in seinem ewigen Gottgeheimnis angeschauten Jesus, auch Leben, Botschaft und Wirken Jesu vor Ostern assoziieren sich: die Botschaft vom Reich, von der Herrschaft Gottes zumal, als das Zentrum seiner Predigt, sein Sprechen vom Vater, in dem er ihn vollmächtig verkündigt und in dem sein einzigartiges Verhältnis zu ihm mit in die Aussage kommt.
Dabei treten vorösterliches Sprechen und Handeln Jesu und seine österliche Gegenwart im Geist in einen eigentümlichen Bezug zueinander. Jesus gibt auf unvergleichliche Weise bereits vor Kreuz und Auferstehung vom Vater Zeugnis, und dieses Zeugnis bezeugt gerade in seiner reinen Konzentration auf den Vater auch ihn selbst. Und doch [106] kommt er selbst und mit ihm zugleich seine Botschaft vom unbedingten Vertrauen auf den Vater durch das Kreuz in die äußerste Krise. Jesus nimmt in keiner Weise die Gültigkeit seiner Botschaft, die Gültigkeit dessen zurück, was vor Ostern bereits für jene, die ihm folgten, erfahrbar wurde; dennoch werden er selbst und seine Botschaft im ganzen sozusagen aus der Theophanie zurückgenommen in die Gottesfinsternis, ins Verschwinden des Vaters und in die Entleerung und Entäußerung des eigenen Selbsts. Erst die österliche Bestätigung und Verwandlung macht endgültig und überbietend deutlich: Jesus hat nicht nur vom Vater und von sich selbst Kunde gebracht, nein, der Vater ist in ihm da, und er ist im Vater. Der Weg Jesu und in diesem Weg er selbst ist Theophanie.
Hierin aber zeigt sich das Neue, Andersartige, die Differenz Jesu an. Es ist nicht nur der brennende Dornbusch, in dem Gott erscheint, nicht nur das Säuseln des Windes, in welchem Gott kommt, nicht nur die Feuersäule oder die Wolke seiner Herrlichkeit. Sein Verhältnis zum Vater, der in ihm erscheint, hebt das Ereignis Jesu ab von jeder anderen Theophanie. Er ist eben selbst diese Theophanie. Und damit wird zum Ort der Theophanie nicht ein Etwas, sondern ein menschliches Leben und Schicksal selbst. Man könnte von einer horizontalen Theophanie sprechen, davon, daß Gott im Neben-uns und Mit-uns, daß er in unserem Eigenen aufgeht. Nicht als ob er sich darin auflöste, als ob Menschenleben, Profanität, Weltlichkeit zum Gott proklamiert würden. Nein, Gott kommt hinein, die Differenz bleibt in der totalen Identifikation bestehen. Und zugleich bleibt die Differenz der Beziehung zwischen Jesus und dem Vater: Er ist die Theophanie des Vaters, aber er ist nicht der Vater. Doppelte Identifikation und doppelte Differenz sind so kennzeichnend im Ereignis der Theophanie Gottes in Jesus: Identifikation Gottes mit dem Worin seines Erscheinens, mit Jesus, und in Jesus Identifikation Gottes mit uns, mit unserem Schicksal. Zugleich aber Differenz zwischen dem Vater und dem Sohn, zwischen dem Sohn und dem Menschenleben, das er annimmt, das er mit uns teilt, das er zu dem ganz und gar seinen macht.
Die Differenz Jesu ist die Totalität Gottes, die sich in ihm ganz gibt und in ihm uns, das Menschliche, ganz annimmt. Endgültigkeit und Unüberbietbarkeit der Theophanie Gottes in Jesus – diese Titel sind reine Selbstauslegung dessen, was hier geschieht: Gott gibt sich selbst und ganz, Gott nimmt uns selbst und ganz an. Der Geschehenssinn [107] von Theophanie öffnet so einen neuen Zugang zu dem, worum es in den metaphysischen Versuchen, das Geheimnis Jesu zu fassen, von Erfahrung und Impuls des Glaubens her ging, und öffnet zugleich Möglichkeiten einer neuen Übersetzung.