Unterscheidungen

Die Differenz zwischen dem religiösen Zeugnis und dem Zeugnis Jesu*

Die aufgestellte These zum Unterschied zwischen dem religiös allgemein geltenden Zeugnisschema und dem Zeugnis Jesu, das den christlichen Glauben konstituiert, muß zuvor indessen noch phänomenologisch eingeholt werden. Diese „Einholung“ kann nicht das in Jesus Ereignete auf einen phänomenalen Kontext reduzieren, aus dem es herauszurechnen oder zu begreifen wäre. Die Epiphanie Gottes in Jesus als „Anwendung“ einer allgemeinen menschlichen Möglichkeit verfehlte gerade ihren epiphanischen Charakter. Auch hier gilt, was schon in anderem Zusammenhang über den religiösen Akt gesagt wurde: seine Wirklichkeit läßt sich nicht aus der Möglichkeit herausrechnen, seine Möglichkeit entspringt dem „wirklichen“ Ereignis. Wenn aber dieses Ereignis den Menschen selbst einholen soll, einholen zu dem, von dem her im Sinn christlichen Glaubens der Mensch Mensch ist, so schließt die „aposteriorische“ Phänomenologie, die Phänomenologie des Christlichen als solchen, eine „apriorische“ Phänomenologie, sowohl des Göttlichen wie des Menschlichen, mit ein, die in der Phänomenologie des Christlichen zur Gegebenheit kommt, ohne daß dadurch eine transzendentale Reduktion des Christlichen geschähe.

Fragen wir zunächst einmal danach, wie sich so etwas erschlie- [81] ßen könne: Übernahme der menschlichen Geschichte in der Geschichte Jesu, „Stellvertretung“. Der Mensch ist Selbstsein im Mitsein. Er ist je von sich aus; daß er aber von sich aus ist, hängt an Bedingungen, die nicht nur von ihm aus sind. Diese Bedingungen sind nicht allein Grenzen seiner Freiheit – als solche werden sie freilich zunächst erfahren –, sondern sie gehen auch konstitutiv in die Freiheit des Menschen als solche mit ein. Wieso? Daß ich bestimmten Menschen mein Leben verdanke, daß ich im Raum einer bestimmten Sprache sprechen lerne, daß ich je schon, in meinem Anfangen von mir her, Partner einer Geschichte bin, die bereits angefangen hat und in der andere mit mir etwas anfangen, grenzt zwar die Möglichkeiten meiner Beliebigkeit ein, öffnet mich aber zugleich in die Situation einer Partnerschaft, die es mir ermöglicht, nicht nur mich zu artikulieren, nicht nur mich zu projizieren. Andere, die von sich her sie selber sind, treten in meine Freiheit mit ein, sie weitet sich über das nur von mir her Vermochte aus. Ich bin in meiner Freiheit von denen mitbestimmt, die meine Partner sind. Solche der Freiheit immanente Bestimmung ist aber keine Minderung der Freiheit; denn Bestimmung und Freiheit sind nicht als solche Gegensätze – nur als „bestimmt“ durch Finalität, scholastisch gesprochen durch die ratio boni,1 ist Freiheit frei: „Appetitlosigkeit“ verunmöglicht Freiheit.

Eine kurze theologische Zwischenbemerkung sei verstattet: Wenn göttliche Freiheit trinitarisch verstanden wird, dann ist unbedingte Freiheit ihrerseits anfängliche Gemeinschaft in Freiheit, nicht isolierte, sondern kommunikative Freiheit.

Im kommunikativen Grundcharakter menschlicher Freiheit, der ihre „Unendlichkeit“ und ihre „Endlichkeit“ zugleich steigert, ist auch die Partizipation eines menschlichen Schicksals am Schicksal anderer erschlossen: Zu mir kann gehören, ja zu mir gehört, wie es mit dir steht. Und wie es mit mir steht, das geht auch dich, dein eigenes Leben an. Wo Freiheit sich in sich selbst verschließt, wo sie sich anderen versagt, wo sie sich in sich selbst festmacht, da bestimme ich – freilich negativ, verendlichend, fixierend – das Dasein anderer mit. Hier liegt ein phänomenaler [82] Anlaß zum – in diesem Anlaß nicht erschöpften – Theologumenon von der Erbschuld. Wo Freiheit aber sich zu anderen hin öffnet, wo sie sich freigibt an andere und für andere, da wird wiederum deren eigener Daseinsraum davon positiv mitbestimmt; mein Dasein für andere schafft als solches Lebensraum für andere.

Freilich hat die Kommunikabilität der endlichen Freiheiten ihre Grenze. Können mein Tod, meine Schuld, meine Einsamkeit in mir selbst wahrhaftig die deinen werden? Gibt es in diesem radikalen Sinn Stellvertretung? Tod, Schuld, unmittelbares Einmal meines Selbstseins fallen in den Bezug meiner Freiheit zum Unbedingten. Sie rühren dorthin, wo meine Freiheit sich selbst erst gegeben sein muß. Als Freiheit aber ist sie sich nicht gegeben durch die äußeren Bedingungen, von denen ihr Zustandekommen abhängt, sondern durch den gewährenden Anruf und Anspruch, der sie dazu freisetzt, von sich aus zu allem, zu sich selbst und zum Unbedingten selbst offen zu sein. In meinem Bezug zum Unbedingten, der nichts anderes ist als meine Freiheit selbst in ihrer Wurzel, prägt sich meiner Freiheit selbst der Charakter des Unbedingten ein: In der Einmaligkeit meines Daseins bricht eine Sorge auf, die sich nicht durch endliche Sicherungen und Auskünfte beruhigen darf; in meinem Gegenüber zum Unbedingten wächst mir meinerseits unbedingte Verantwortlichkeit zu, von der ich mich nicht „entschuldigen“ kann; in den Bezügen meiner Kommunikation stehe ich als Partner in unvertretbarer und unverlierbarer Einmaligkeit. Darin ist eine eigentümliche Polarisierung gegeben. Was du mit mir teilst, was du für mich tust, was du mit mir leidest, bestimmt zwar den Raum, in dem ich, unbedingt mich verhaltend, meine Freiheit vollbringe, es erweitert oder begrenzt ihn. Dies kann mir aber gerade nicht abnehmen, ich selbst zu sein, ich selbst angesichts des Unbedingten. Und in diesem Selbstsein angesichts des Unbedingten vermag ich zwar von mir her den faktischen „Schluß“ meiner Beziehung, nicht aber deren neuen Anfang. Ich kann von mir her sterben, kann schuldig werden, kann hineingeraten in kommunikationslose Einsamkeit, doch Tod, Schuld oder auch letzte Verfangenheit in mir allein vermag ich nicht durch einen „eigenen“ Akt verfügend aufzuheben. Der Anfang [83] meiner Freiheit ist immer Konsonanz mit dem unbedingten Anfang, der meinem eigenen Anfangen entzogen ist.

Hat hier also die Offenheit der Freiheit zur Freiheit ihre Grenze? Ist Mitsein im allerletzten doch nur ein Intermezzo der Existenz? Nur unter einer Bedingung nein: unter der Bedingung, daß menschliches Mitsein unbedingtes Mitsein wäre, und zwar in dem radikalen Sinn, daß es zugleich Mitsein des radikalen Ursprungs wäre, der meine Freiheit mir neu gewährt.

Solches aber bezeugen die großen ursprünglichen Deutungen dessen, was in Jesus Christus geschieht, in seinem Menschsein, seinem Sterben, seiner Auferweckung. Sie bezeugen, daß sich hier in menschlichem Mitsein die Geschichte Gottes mit dem Menschen, sein Heilswille, seine erlösende Neuschöpfung des Menschen, daß sich hier also die Überwindung des Todes ins ewige Leben, daß sich hier die Vergebung der Schuld in die Versöhnung, in die Sohnschaft, daß sich hier die Gründung einer neuen Menschheit, die communio sanctorum begibt.

Fragen wir indessen in diese – zweifellos nur von sich selbst her aufgehende, so aber gerade in die Menschlichkeit des Menschen eingehende – Botschaft hinein: „Entspricht“ es dem Aufgang Gottes, entspricht es der Eigenart seiner Epiphanie, sich gerade in der mitmenschlichen Gemeinschaft eines Menschen zu ereignen, der jene Grenzen unseres Daseins auf sich nimmt, an denen menschliche Beziehung zum Unbedingten eben an ihr „Ende“ gerät? Als wir dem Unterscheidenden Gottes entgegendachten, zeigte sich uns: Ursprünglichkeit kann nur Gestalt werden, kann sich als Ursprünglichkeit nur mitteilen, indem sie sich gibt. Nur Gestalt als Gabe ihrer selbst unterbietet nicht, sondern vollbringt ihre Ursprünglichkeit, läßt sie über sich selbst hinaus aufgehen, zu anderen hin unmittelbar werden. Dies gilt nicht nur auch, sondern gerade in radikaler Schärfe von der unbedingten Ursprünglichkeit. Ihr Sich-Geben ist ihre Epiphanie. Sich-Geben, dieses Phänomen kennen wir aus dem menschlichen Mitsein. Es ist jenes Phänomen, in dem menschliche Freiheit sich überschreitet und so gerade sich steigert. Im Grunde wissen wir nur von diesem Phänomen her, können [84] wir nur von ihm her artikulieren, daß unbedingter Ursprung er selbst und darin bei uns zu sein vermag, indem er sich gibt. Wissen wir das aus einem schlußfolgernden Vergleich? Wir wissen es vielleicht, weil das Sich-Geben menschlicher Freiheit als freilassendes Übernehmen der Freiheit anderer am glaubhaftesten, da nicht im Sinn des Habens und Verfügens, sondern eben als Sich-Freilassen ans Unbedingte rührt. Christlicher Glaube nun weiß in der Tat das Sich-Geben eines Menschen als die Stätte göttlichen Sich-Gebens selbst.

Eine Zwischenfrage: Was sichert indessen, daß die Deutung des Sich-Gebens Jesu als Sich-Geben Gottes nicht eine Projektion des menschlichen Modells, sondern Durchgabe des göttlichen Ereignisses in der menschlichen Wirklichkeit Jesu darstellt? Zuerst wäre hierzu zu sagen: Nur wer sich auf solche Botschaft einläßt, erfährt, daß sie trägt. Das Neue Testament aber gibt uns gerade dieses Zeugnis. Die Freiheit der Kinder Gottes beruht gerade darauf, der zeugnishafte Charakter des Wortes aus dem Römerbrief liegt auf der Hand: „Wie sollte der, der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat, uns mit ihm nicht auch alles schenken?“ (Röm 8,32).

Zum zweiten darf uns auffallen, daß dem Sich-Geben Jesu in den Tod für die Vielen die Botschaft Jesu vom sich gebenden Gott, von dem, der gerade jenen sich zuwendet, die ihm ferne, die ohne Rechtsansprüche auf seine Gunst sind, zuvorkommt. Eher tritt die Botschaft Jesu vom sich gebenden Gott in die Deutung des Todes Jesu als Todes für die Vielen mit ein, als daß umgekehrt vom Tod Jesu her seine Botschaft vom sich gebenden Gott konstruiert wäre.

Zum dritten zeigt das Neue Testament in seiner reichen Vielstimmigkeit doch darin einen erstaunlichen Einklang: Überall wird Jesu Tod als gnädiges Handeln Gottes für die Menschheit und an der Menschheit gedeutet.

Das unterscheidend Christliche zeigt sich uns also zunächst am Vollzug Jesu als der Epiphanie Gottes, die ihrerseits den menschlichen Vollzug des Glaubens trägt und bestimmt. Dieser Vollzug Jesu stellt sich dar als ein ungetrenntes und ungeschiedenes Ineinander [85] göttlichen Sich-Gebens: Gott gibt seinen Sohn, und menschlichen Sich-Gebens: Jesus gibt sich selbst. Dieses Sich-Geben Jesu ist freilich nicht nur Sich-Geben an die Menschen, sondern zugleich Sich-Geben an den Vater, Gehorsam gegenüber dem Vater (vgl. etwa Phil 2,8), Verherrlichung des Vaters (vgl. etwa Joh 13,32). Daß die Geschichte Jesu mit den Menschen Gottes Geschichte mit den Menschen ist, impliziert die Geschichte Jesu mit dem Vater. Diese Geschichte zwischen Jesus und dem Vater ist, genau genommen, der Ort und das Ereignis der Epiphanie Gottes, in dieser Geschichte ereignet sich die Konsonanz göttlichen Sich-Gebens und menschlichen Sich-Gebens in Jesus. Hierdurch erst wird gerechtfertigt, den Vollzug Jesu in der Kategorie des Zeugnisses zu verstehen: Jesus gibt Zeugnis vom Vater, nicht nur mit seinem Wort, sondern gerade auch mit seinem Tod und Auferstehen, und darin – dies ist freilich ein phänomenologisch neuer Akzent – gibt der Vater Zeugnis für seinen Sohn (vgl. etwa Joh 5,31–38; 17,1–5): der Sohn tut, was der Vater tut, das Sich-Geben Jesu ist nicht nur die Durchgabe des Sich-Gebens Gottes in ihm, sondern Gottes Sich-Geben, das von jenen erfahren wird, die Jesus glauben, bezeugt das Sich-Geben Jesu als gültige Botschaft für die Menschheit, als Botschaft des Heils.

Die grundlegende Differenz zwischen dem Zeugnis Jesu und dem für Religion allgemein konstitutiven Zeugnis beruht nun darin, daß die Solidarität Jesu mit den anderen nicht dort ihre Grenze findet, wo menschliche Freiheit als solche die Grenze ihrer Kommunikabilität findet, daß in dieser Freiheit Jesu vielmehr die unbedingte Freiheit Gottes aufbricht und sich mitteilt. Gerade so wird die für Jesus und damit für das Christentum konstitutive Koinzidenz von konstitutivem Zeugnis und Epiphanie gewährleistet.

Ihr Äußerstes finden diese Epiphanie und dieses Zeugnis darin, daß gerade die Grenzsituationen menschlichen Daseins, in denen dieses dem Aufgang Gottes verschlossen und entzogen erscheint, Tod, Schuld und Verlassenheit, in Jesu Hingabe der Ort werden, an dem Gott aufgeht und sich mitteilt. Für uns erlittener Tod, für uns übernommene Schuld, für uns geteilte Verlassenheit von Gott werden Zeugnis für Gott, ja Epiphanie Gottes. Hier ist die Gött- [86] lichkeit Gottes im umfassendsten und äußersten Sinn offenbar. Hier ist Herrschaft Gottes – gerade weil hier totales Sich-Geben Gottes ist.


  1. Vgl. Thomas von Aquin, Quastiones disputatae de veritate, q. 24 a. 7. ↩︎