Theologie als Nachfolge
Die Distanz der Epochen
Und doch trifft der Blick auf Bonaventura in ein fremdes, fürs erste schier ungangbares Gelände. Nicht nur, daß er sich vom Stil anderer mittelalterlicher Denker durch eigentümliche Komplizierungen abhebt, die zunächst eher an das verspielte Maßwerk einer gotischen Rosette als an die klaren Strukturen einer Bettelordenskirche gemahnen: Kaskaden von Zahlenspielen und Symbolreihen, von Spiegelungen, Parallelisierungen, Kontrasten, vielfältige Neubildungen in der Sprache – das führt dazu, daß man lieber von ferne bewundert als einsteigt ins Detail. Und doch wird sich zeigen, daß vieles von solchem Detail recht unmittelbar mit der elementaren franziskanischen Wurzel zu tun hat. Aber – und darauf muß noch kurz eingegangen werden – die speziellen Schwierigkeiten des bonaventuranischen Stils sind eingebettet in die fundamentalere Fremde, welche das mittelalterliche Denken, die Scholastik von uns Spätsiedlern der Neuzeit wegrückt. Daß das Mittelalter unter dem Vorzeichen der Tradition steht, hat uns bereits beschäftigt. In den offenen Horizont der antiken Kultur des Mittelmeerraumes rücken fasziniert die neuen Völker, zumal germanischer Provenienz, als naive Erben ein. Sie rauben nicht einfach, was gefällt, um es ihrem Eigenen als Beutestück einzuverleiben, sondern sie fühlen sich berufen, die Nachfolge anzutreten. Was sie vorfinden, wird herangezogen zur Legitimation und gründet in einem neuen Sinn Tradition. Das Verhältnis zum Erbe, das aus anderem Ursprung empfangen ist, verändert sich, nicht das Erbe selbst. So wenigstens der Intention und dem Selbstverständnis der neuen Geschichtsträger gemäß. Aber gerade das neue Verhältnis schafft den neuen Stil, die neuen Fragen, ja insgesamt: die neue Kultur. Solches wirkt sich aus in Theologie und Philosophie. Die Autorität schlechthin werden die „Väter“, die Schrift und eine sozusagen kanonisierte Auswahl antiker Gestalten, die gleichsam als Wegbereiter Christi, als heidnische Propheten, fungieren. Der Ausweis eines Gedankens liegt nicht darin, daß er Neues sehen läßt oder schon Gesehenes neu zu Gesicht bringt; im Gegenteil, [17] man beruft sich darauf, daß es schon früher, schon von den Großen, schon von Anfang an so gesehen wurde. Zitat tritt an Stelle von Originalität, wird zumindest zum Etikett, hinter welchem diese sich zu verbergen hat. Das ist freilich noch nicht im vollen und eigentlichen Sinn Scholastik. Hier begegnen wir wiederum jener Dynamik, die uns schon beim Anvisieren der Gestalt des Franz von Assisi auffiel: Der Überlieferung entspricht die Rückfrage an den Ursprung. Dem zu tradierenden Gedankengut entspricht zumindest von Anselm, dem Vater der Scholastik, an die Rückfrage, wie das Tradierte Einwänden gegenüber vor der Vernunft plausibel zu machen, wie ihm angesichts unterschiedlicher Traditionsströme Eindeutigkeit, wie ihm angesichts neuer Fragestellungen neue Gesichtspunkte abzugewinnen seien. Es geht nicht um einen Ersatz der Tradition durch Selberdenken, sondern um eine Einholung der Tradition in solches Selberdenken, das seines Ursprungs in der Gabe freilich bewußt bleibt. Die Konvenienz des positiv Geoffenbarten und Überlieferten zum gegenwärtigen, aus sich selbst her aufbrechenden Fragen und Denken und in solcher Konvenienz die gegenseitige Steigerung von Tradition und Entwurf sind dynamisches Prinzip einer in ihrer Vollgestalt verstandenen Scholastik. Was uns von dieser Welt trennt, ist die neuzeitliche Emanzipation der Subjektivität. Neuzeit setzt beim Ego, beim Ich an, dessen Selbstkonstitution und Weltkonstitution im Denken nachvollzogen und in allen Bereichen operationalisiert wird. Das bedeutet keineswegs sofort einen Ausstoß Gottes; aber entweder wird Gott zur bloßen Bedingung der menschlichen Subjektivität, oder die menschliche Subjektivität wird als einbegriffener „Fall“ in der ursprünglichen göttlichen aufgehoben. Überlieferungen, Autoritäten werden dazu genötigt, sich vor der Vernunft zu rechtfertigen, Vernunft aber ist die Kraft der Subjektivität, sich und alles in seinem Entstehen, in seiner Genese aus der Subjektivität durchsichtig zu machen. Man könnte, um die Generalisierung und Verkürzung weiterzutreiben, die mit solchen Formeln verbunden, im Interesse einer großflächigen Orientierung aber kaum vermeidbar sind, die epo- [18] chalen Unterschiede etwa auf folgenden Nenner bringen: Antikes Denken hatte seine Mitte in der Physis, in der Natur als dem Aufgang des göttlichen Ursprungs in die Welt hinein: Welt als Raum göttlicher Epiphanie. Die Neuzeit ist geprägt vom Ansatz der Subjektivität bei sich selbst, in dem Gott, Welt und Mensch in je unterschiedlichen Positionen und in je unterschiedlicher Radikalität auf eines „reduziert“ werden. Beidem steht das Mittelalter gegenüber: hier geht es um eine Synthese. Das Maßgeblichwerden christlichen Glaubens läßt zum führenden Prinzip den Aufgang Gottes aus sich selbst, seine Selbsterschließung werden. Dem steht die Erfahrbarkeit und Gegebenheit von Welt gegenüber, damit aber auch die Autonomie des Denkens, durch das der Glaube sich in dieser Welt orientiert und zugleich sich und seine Welt vor den Anspruch der Offenbarung hinbringt. Autonomes Denken verdankt sich und die Welt dem göttlichen Ursprung, aber gerade darin bewahrt es seinen Rang und seine Eigenständigkeit. Man könnte im Mittelalter demgemäß ein Denken der Begegnung als maßgeblich vermuten, und solches wäre – im Blick auf zentrale Gestalten – keineswegs der Sache nach verfehlt; doch die Kategorie der Begegnung tritt als solche gerade nicht in den Vordergrund. Sie ist in der christlichen Geschlossenheit der Welt und des Denkens nicht als Begegnung auffällig, sie setzt sich eher durch als die Ordnung, die aus göttlichem Ursprung Gott, Welt und Mensch in ihr Zusammengehören setzt. Die Synthesis geschieht in solcher Ordnung; das Ringen des Geistes geht um ihre Interpretation.