Das Verständnis vom Menschen aus dem Anspruch des Evangeliums

Die dreifache Krise des Menschen heute

Die Problematik, in die man sofort hineinstößt, wenn man vom Verständnis des Menschen aus dem Anspruch des Evangeliums sprechen will, ist eine dreifache. Einmal fragen sich viele, wo denn der Anspruch des Evangeliums für eine Anthropologie, für ein Verständnis des Menschen deutlich und eindeutig genug zu fassen sei. Und wir stoßen in der Fachdiskussion der Theologie nur auf zu viele unterschiedliche Positionen, ohne daß sich hier ohne weiteres eine Konvergenz abzeichnete. Aber wir haben ebenso den Eindruck, daß es keine einheitliche Weise einer philosophischen Anthropologie gibt, die sich sozusagen durch das Evangelium und durch das Christliche einfachhin überhöhen ließe. Der Konsens, wie denn philosophisch der Mensch als solcher zu fassen und zu verstehen sei, war vielleicht in noch kaum einer Epoche der abendländischen Geistesgeschichte so gering wie heute. Und in diesen beiden Dilemmata kündigt sich im [2] Grunde ein drittes an, daß wir auch ganz praktisch und ganz unmittelbar nur wenig von dem eindeutig zu sagen wissen, als was oder als wen der Mensch sich selber verstehe. Das vitale Selbstverständnis des Menschen bricht auseinander, bricht auseinander nicht nur in verschiedene Lager, sondern es bricht auseinander im selben Subjekt. Ich möchte plakativ vereinfacht als Ausgangsthese über die jetzige Situation einmal zunächst dieses sagen, daß der Mensch heute sich in einer merkwürdigen Krise seiner Identität, in einer merkwürdigen Krise zugleich der Kommunikation und in einer merkwürdigen Krise auch dessen befindet, was man den Dienst, das Dienenkönnen des Menschen, nennt. Der Mensch erfährt sich in unzähligen Ansprüchen, er erfährt sich in unzähligen Kontexten, er spielt mit in unzähligen Rollen, er ist auseinandergelegt in unzählige Schichten.

Die Einheit des Subjekts wird durch die Vielzahl der unterschiedlichen Ansprüche und Angebote, denen der Mensch ausgesetzt ist, auseinandergesprengt. Und gerade dies, daß das Ich sich nicht mehr als jene Einheit verstehen kann, in welcher sich die Fülle des Lebens sammelt, daß der Mensch nur zu oft sich selbst sehr fremd gegenübersteht, wenn er in den Spiegel schaut, gerade dies, daß das Wort „ich“ zum Rätsel wird, zum Wort des Sichentgehens, des bloßen sich Suchens geworden ist, gerade darauf basieren sehr viele Erfahrungen und Nöte des Menschen von heute: Wer bin denn ich, und wer bist du? Wo aber dies nicht mehr selbstverständlich ist, da ist Kommunikation schwer. Denn es gibt zwar unzählig viele Kommunikationsvorgänge, aber die Subjekte, die miteinander kommunizieren, haben ja nicht eine durchgängige Identität für sich, sie bringen sich nicht je als dieselben ein, sondern in je unterschiedlichen Funktionen. Und diese vielen Funktionen, in welchen sie allein rollenmäßig auftreten in unterschiedlichen Kommunikationen, bringen es zwar mit sich, daß beinahe alles gesagt werden darf, daß beinahe alles zur Sprache kommen darf, aber in dem, was ich zur Sprache bringe, komme nicht mehr ich zur Sprache. Über alles mögliche redet man, alles kann nahezu exhibitionistisch dargetan werden, den anderen mitgeteilt werden – und doch, indem ich alles gesagt habe, bleibt eines nie gesagt, eben jenes Ich, weil dieses Ich sich selber entgeht. An- [3] dauernd muß ich von mir weg, andauernd bin ich über mich hinausgetrieben, andauernd muß ich mich äußern, andauernd Stellung nehmen, aber wo komme ich denn an, und was bringe ich hin zum Nächsten? Ist nicht der ganze Verkehr, in den wir eingespeist werden, ein Einbahnverkehr, in dem die eindeutige Rückkehr vom anderen zu mir selbst nicht gewährleistet ist? Ich verliere mich an Adressaten, ohne letztlich als der, der ich bin, anzukommen; denn wer ich bin, das weiß ich nicht, und wie soll es dann der andere wissen? In dieser Not aber – ich fasse zusammen und plakatiere geradezu – findet sich der Mensch in einer merkwürdigen Not, die sich um ihn selber jeweils zentriert. Er sucht sich, er möchte sich finden, er möchte sich verwirklichen, er möchte sich einbringen, und alles wird unter die eine Frage gestellt, ob es ihm selber dient, ob es ihn selber zu sich bringt. Dadurch aber verliert der Mensch die Willigkeit, sich einfach dem anderen zu schenken, ja die Möglichkeit, sich ihm zu schenken im Dienst, er fühlt sich ausgepreßt vom bloßen Apparat in hundert und tausend Funktionen, die ihm abverlangt werden. Aber wer er in diesen Funktionen ist und was in diesen Funktionen geschieht, das eben entgeht ihm. Der bloße Druck des Funktionierens läßt nicht mehr deutlich werden, für wen oder was er funktioniert. Die einzige sorgenvolle Frage, die zurückbleibt, ist entweder die des Überlebens und Mitmachenkönnens, oder aber die: Was bedeutet denn das für mich? Die Dimension Dienst scheint nahezu notwendig auszufallen in dieser Konstruktion der Welt und der Gesellschaft.