Die Suche nach dem Bruder

Die eigentümliche Ambivalenz der Bruderschaft*

Im Brudersein begegnet uns die innere Grenze und zugleich die Größe geschaffener Zeugungs- und Schaffenskraft.

Blicken wir zunächst auf ein Vergleichbares, auf den Künstler und sein Schaffen. Daß er viele Werke schafft, ist zugleich ein Zeichen der Fülle und ein Zeichen der Armut.

Denn wenn er ganz in der Fülle wäre, wenn er ganz das vermöchte, was er vermag, dann könnte er sich in einem einzigen Mal, in einem einzigen Kunstwerk völlig aussprechen. Er wäre darin letzterdings erschöpfend dargestellt. Wenn er aber in der Tat nur ein Kunstwerk schaffen könnte, wenn damit seine Kraft versiegt wäre, dann wäre er wiederum kein ganzer Künstler, denn er wäre am Ende seiner Schaffenskraft, die größer ist, wenn sie mehr Kunstwerke aus sich entläßt. Das menschliche Schaffen schwingt in einer eigentümlichen Spannung zwischen Einzahl [33] und Vielzahl. Die Einzahl ist Sinnbild der ganzen, geglückten Fülle, aber sie ist in ihrer endlichen, irdischen Gestalt immer Einzelheit, immer nur Eines – und warum nicht mehr? Die Vielzahl ist Ausdruck einer größeren Fülle, eines größeren Vermögens, einer machtvolleren Weite und Tiefe. Und doch ist sie zugleich Zeichen der Grenze, denn wenn der Mensch ganz wäre, was er ist, dann würde er auf einmal sich ganz auszusprechen vermögen. Wiederholen wir diese Beobachtung in die Verhältnisse von Bruderschaft und Elternschaft hinein. Die Idee, das innere Leitbild des Sohnes ist, doch der Erbe zu sein, der eine, dem die ganze Liebe gehört, auf den die ganze Hoffnung der Eltern sich konzentriert, in dem die Eltern sich einmal für allemal und gültig in die Zukunft hinein ausgesprochen haben. Und doch, wenn ein Kind allein bleibt und als das „Einzige“ belastet ist mit dem Anspruch, das ganze Erbe zu übernehmen, alle Erwartung in sich zu erfüllen, dann ist es überfordert, oder die Eltern verschließen sich in sich selbst und geben in verengter Selbstgenügsamkeit sich nicht ganz hin. Die Fülle der Elternschaft ist darauf angelegt, vielmal dieses Ereignis des Sohnes, der Tochter, des Kindes hervorzurufen. Doch in diesem Vielmal liegt eine innere Not, die Not der Rivalität, die Not dessen, daß der Einzelne nicht genügt und daß er, durch die Brüder ergänzt, sich teilen muß mit den andern in die Liebe und das Erbe, in die Gunst und in das Geschick. Es ist besser, wenn viele Kinder sind, sie entfalten sich und erziehen sich leichter, sie können leichter das eine Erbe weitertragen. Aber es ist zugleich Armseligkeit, daß es viele sind und nicht nur einer, wo doch die innerste Sehnsucht des Menschen danach geht, der Einzige, Geliebte und Einmalige zu sein.