Wahrheit und Zeugnis

Die Elemente des Zeugnisses

Wir dürfen uns also an eine philosophische Erörterung des Themas Wahrheit und Zeugnis heranmachen, der Belang dieser Erörterung für die Theologie und der eigenständige Rang dieser Erörterung in der Philosophie haben sich uns gezeigt.

Die grundlegende Frage ist uns schon aufgetaucht. Sie lautet: [57] Was ist überhaupt, ein Zeugnis? Wir wollen sie phänomenologisch stellen, und das heißt: Wir wollen darauf achten, was im Wort Zeugnis, so wie wir es gebrauchen, schon je mitgedacht und vorverstanden ist.

Wenn wir das Wort Zeugnis sagen, so kann uns zunächst verschiedenes dabei einfallen: das Zeugnis vor Gericht, das Schulzeugnis, die große, eine Überzeugung bezeugende Tat, ein Gegenstand oder Text aus früherer Zeit. Gliedern wir diese Vielfalt vorläufig, so ergibt sich eine Zweiteilung: Zeugnis kann einen vorliegenden Bestand, Zeugnis kann aber auch einen Vorgang meinen. Der Turm unseres Freiburger Münsters etwa ist ein Zeugnis gotischer Baukunst. Ein Bestand, der aus einer vergangenen Epoche herrührt und in einer anderen, der gegenwärtigen Epoche, noch besteht, wird als Zeugnis dieser früheren Epoche angesprochen. Der Münsterturm tut indessen nichts, um Zeugnis der Gotik zu sein, sein Zeugnischarakter ruht in seiner Gegebenheit.

Dem steht die andere Gruppe von Zeugnissen entgegen, die als Zeugnis abgelegt werden: das Bestandhafte an ihnen ist Ergebnis eines zeugnisgebenden Aktes, einer transitiven Tätigkeit, deren spezifierender Inhalt nicht eigentlich der zugehörige Bestand, sondern das in ihm Kundgegebene, Offenbarwerdende ist. Ein Zeuge vor Gericht gibt zwar ein als „Text“ fixierbares Zeugnis, der Schwerpunkt des Zeugnisses als Zeugnis liegt jedoch im Vollzug der Aussage als einer solchen, genauer: des bestätigenden und erhellenden Einsatzes des Zeugen für das in der Aussage Ausgesagte.

Noch schärfer tritt dieser Vollzugscharakter von Zeugnis dort zutage, wo das Zeugnis unmittelbar gar keinen Bestand zeitigt, sondern im Vollzug selbst liegt, es ist zu denken zuhöchst an jene Zeugenschaft, die gerade den Bestand eigenen Daseins weggibt und aufgibt, damit das Bezeugte als ein solches aufgehe.

Die verschiedenen Spielarten von Zeugnis, Zeugnis als Bestand und Zeugnis als Vollzug, lassen sehr vorläufig die grundsätzlichen Bezugspunkte sichtbar werden, die in jedem Zeugnis eingebunden sind. Immer ist ein Bezeugtes da, und dieses Bezeugte ist das un- [58] mittelbar Entzogene, Abwesende, das im Zeugnis hervorkommt, anwesend wird. Immer ist da des weiteren ein Horizont, in welchen dieses Bezeugte hineinbezeugt wird, und in welchem ohne das Zeugnis das Bezeugte gerade nicht oder doch nicht so offenbar wäre. Immer ist schließlich da ein Medium des Zeugnisses, ein Bestand, der das Bezeugte durch sein Währen vor- und weiterträgt in den Horizont, in den hinein das Zeugnis geschieht, oder aber eine Negation von Bestand, wie bei der Selbsthingabe, worin wiederum der Rang und die Wirklichkeit des Bezeugten hineinstellt in diesen Horizont. Immer ist auch, wenn auch manchmal verborgen, ein Vollzug da, der direkt oder indirekt das Zeugnis vollbringt, und das heißt: den Bestand erbringt oder negiert, in dessen Endstand, Währen und Vergehen das Zeugnis in den Horizont seiner Empfänger eintritt. Immer, so dürfen wir sagen auch angesichts des scheinbar bloß bestandhaften Zeugnisses. Denn daß es den Münsterturm als Bestand etwa gibt, gründet ja doch in einem Vollzug, im Planen und Bauen, und nur daß die Form des Geplanten und Gebauten noch jetzt in diesem Bestand erstrahlt, qualifiziert ihn zum Zeugnis. Der Vollzug des Bauens und Planens hebt sich freilich ab vom Vollzug des Zeugen vor Gericht oder gar des Blutzeugen. Bei näherem Zusehen werden wir jedoch, in einer späteren Phase unserer Betrachtung, bemerken können, wie jegliches menschliche Tun, das es zu einem bezeugenden Bestand kommen läßt, selbst Anteil hat an der Grundstruktur des Bezeugens.

Die genannten Elemente, die dem Phänomen Zeugnis eine Struktur geben, rücken so auf drei zusammen: 1. das Bezeugte, unmittelbar Entzogene, 2. der gegenwärtige Horizont, in den hinein dieses Bezeugte gegenwärtig gesetzt wird, 3. der Vorgang des Zeugnisses, in dem auf je verschiedene Weise ein Geschehen und ein Bestand miteinander verknüpft sind.

Das letztgenannte Element, der Vorgang des Zeugnisses, verbindet das Woher und Wohin des Zeugnisses; dieser Vorgang drängt in die Mitte unserer weiteren Betrachtung. In ihm ruhen die entschei- [59] denden Differenzen der Grundweisen von Zeugnis, in diesen Differenzen wird aber auch gerade das eine und durchgängige Wesen des Zeugnisses sichtbar.