Das Heilige und das Denken

Die Erhellung des Zueinander: verdankendes Denken

Denken „darf“ sein; Denken ist allererst freigegeben an sich selbst durch die Bindung an sein Wesen. Sie ist ihm nicht von außen verfügt und doch auch nicht von innen, durch seine eigene Kraft vermocht. Sie geschieht in ihm doch ihm selbst zuvor, sie liegt in der Richtung jenes augustinischen „interior intimo meo“. Denken ist [31] im Ganzen nichts anderes als Antwort auf diesen es zugleich an sich bindenden und an sich freisetzenden Zuspruch seines Wesens. Aus ihm ist es beschenkt mit sich selbst und hat so sein Dürfen, seine ihm eigene Schwungkraft. Aus ihm ist es beladen zugleich mit dem Ernst seines Müssens, seiner Verantwortung, es gelangt in die Schwerkraft seiner eigenen Gewichtigkeit. Von seiner Wurzel her, die im Wachstum seiner Gestalt nicht nur offenbar, sondern mehr noch verdeckt wird, lebt in ihm also jene zweieine Qualität oder Gestimmtheit, die, wiederum augustinisch, sich artikuliert als das „et inhorresco, et inardesco“.1

Diese Gestimmtheit des Denkens und das, was in ihr sich vermeldet, der seinem eigenen Innen vorlaufende Abgrund, aus dem das Denken sich zukommt, die es sich selbst gewährende unbedingte Schranke seiner selbst, werden dem Denken nicht offen auf die Weise „zwingender“ Erkenntnis. Diese hat ja, so zeigte sich bereits, nur statt innerhalb der Reichweite fassenden Denkens. Eindeutig, aber je nur unerzwingbar läßt das Denken sich los aus seinem ist-sagenden Fassen in die Identität mit seinem Wesen: alles sein zu lassen als das, was es ist, und in die Weise, wie es ist oder das „ist“ gerade von sich abweist. Das sich frei in diese Identität mit seinem Wesen gebende Denken entdeckt nun aber diese seine Freigabe ans Wesen als Antwort auf eine ebenfalls freie, unerrechenbare und unerzwingbare Urgabe, die ihm sein Wesen allererst zuweist und läßt, damit zugleich und als ein selbes ihm auch die Freiheit zu seinem Wesen zuweist und läßt, das Denken also in einem mit sich selbst beschenkt und für sich selbst verantwortlich macht.

Gewiß kann das Denken der Versuchung verfallen, sein Fassen und Greifen über das Ende des Faßbaren und Begreifbaren hinaus zu projizieren, das, was ihm nicht Gegenstand ist, in naiver Selbstüberschätzung, rascher Unachtsamkeit auf seine Grenzen oder wil- [32] lentlicher Verfügung als seinen Gegenstand aufzubauen. Solches würde zum von Gregor von Nyssa gerügten Götzendienst des Begriffes.2 Er wäre genau das Gegenteil einer Begegnung mit dem Heiligen. Doch so wenig das Denken über sich selbst, und d. h. über das, was ist und insofern unter ihm ist, hinausgreifen darf, so wesenhaft gehört es ihm zu, sich selbst zu „orten“, seiner es mit sich beschenkenden und beladenden Betroffenheit und Unselbstverständlichkeit innezuwerden und durch dieses Innesein selbst über sich hinauszuweisen ins Unbegreifliche. Denken fängt unbegreiflich, fängt zutiefst als ein nicht von etwas, sondern von allem und von sich selbst betroffenes ϑαυμάζειν an.

Wenn es unerzwingbar in diesen seinen Anfang gerät, so kann es ihn nicht mehr auf sich beruhen lassen und vergessend von ihm weggehen, die „Qualität“ des Dürfens und Schuldens, des Geschenks und der Verantwortung gehen mit ihm und machen es zum verdankenden Denken. Im Dank, im Sich-Verdanken geschieht die Identität des Sich-Gehörens und Sich-Schuldens, der Seligkeit und des Ernstes, des inardesco und des inhorresco. Lassendes Denken entdeckt sich selbst in der sich überfragenden Frage als ein sich gelassenes Denken und wird so zum verdankenden Denken.

Drei Momente umfängt dieser Gang des Denkens in sich selbst.

  1. In der Unbeantwortbarkeit der Frage nach seinem Fragenkönnen findet das Denken sich an einer unbedingten Schranke, die es zugleich erst sich gewährt, ihm sein Wesen zuweist.

  2. Diese gewährende Schranke betrifft das Denken auf die zwiefältige Weise eben des Dürfens und Schuldens: Denken darf denken, und Denken schuldet es zu denken, Denken ist mit sich beschenkt und für sich verantwortlich, es ist durchstimmt von seinem entzogen-gewährenden Anfang als einem fascinosum et tremendum.

[33] 3. Indem das Denken, seiner Grundstimmung inne, dem es bestimmenden Anfang frei zustimmt, findet es diesen selbst als frei ihm zubestimmt.

Dürfen und Schulden sind nie bloße Fakten, sondern Antwort, Antwort ist Antwort nur in Freiheit, und das, worauf die Antwort antwortet, wird von ihr als selbst frei bezeugt. Freiheit antwortet der Freiheit, dankt und verdankt sich ihr.3

Diese Freiheit, die dem nur im Verdanken mit seinem Wesen und Anfang einigen Denken bezeugt ist, darf nicht als ein verfügendes Prädikat verstanden werden, das hinausgriffe über den Raum des möglichen Fassens. „Freiheit“ kann in die seinem eigenen Innen innerlich vorlaufende Ursprünglichkeit vom Denken nur hineingesagt werden im Sinne eines Frei-Lassens und Frei-Gebens des Geheimnisses an sich selbst, eines reinen Verdankens eben, das sich lassend weiß, daß es sich allererst zukommt aus dem Abgrund, in den es sich läßt.


  1. „interior intimo meo“: Augustinus, Confessiones III, 6, 11; „et inhorresco“ „et inardesco“: XI, 9, 11; (vgl. auch VII, 10, 16: „contremui amore et horrore“). ↩︎

  2. Siehe hierzu Ivánka, Endre von: Plato Christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964, 158f.; Balthasar, Hans Urs von: Présence et pensée, Paris 1942, 64 (vgl. etwa die Texte Gregors: Vita Moysis, PG 44, 404 B; Contra Eunomium, 12, PG 45, 944 C). ↩︎

  3. Zum verdankenden Denken vgl. Meister Eckhart, Predigt 2, über „Intravit Iesus in quoddam castellum“ („wan vruhtbaerkeit der gabe daz ist aleine dankbaerkeit der gabe, und da ist der geist ein wip in der widerbernde dankbaerkeit“), in: Die deutschen Werke, Bd. 1, hg. v. Josef Quint, Stuttgart 1958, 27). ↩︎