Anfang bei der Zukunft: Anfang beim Vater
Die Erschaffung des Adam – Michelangelos Fresko*
Der „Text“, der uns geleiten soll, ist ein Bild, ein vielleicht zu oft wiedergegebenes (und im Grunde doch nicht verbrauchtes) Bild. Jenes, das, gäbe Gottvater sich ins Bild einer menschlichen Gestalt, dann vielleicht neben dem barmherzigen Vater mit dem verlorenen Sohn von Rembrandt sein sprechendstes Portrait wäre: die Erschaffung des Adam aus den Fresken des Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans.
(Eine Abbildung des Freskos ist auf den Seiten der Vatikanischen Museen zu finden unter: Die Erschaffung des Adam_Michelangelo, Anm. d. Redaktion)
Es mag als bedrängende Häufung erscheinen, daß wir schon wieder bei einem Motiv aus der Schöpfungsgeschichte anheben. Zudem, es geht um denselben Augenblick, der uns schon unser Anfangen mit dem Geist in-spirierte: Übersprung des Lebens Gottes in den Menschen. Und doch ist der Übergang ein je anderer: dort das Wehen des Lebensodems, hier die Berührung der Hände, in denen mit unvergleichlicher Eindringlichkeit der Unterschied und die Kontinuität zwischen Leben-Geben und Leben-Empfangen Gestalt wird. Kompositionell dürfen wir Michelangelos Fresko sogar als „Brücken-Bild“ bezeichnen. Zwei Bereiche sind da: die Erde, die den soeben im Begriff des Erwachens zum Leben sich hebenden Leib des Adam birgt – der wallende Mantel des Schöpfergottes, der ihn und die Schar der Zeugen des Ereignisses – Engel und wohl die noch unerschaffene Eva – umfängt. Dazwischen öffnet sich die Kluft, und über sie schlagen des Adam linker und Gottes rechter [145] Arm, die aufeinanderzu gerichtet sind und sich in der Spitze der Zeigefinger beinahe berühren, die Brücke in offener Mitte. Diese in den Armen und Händen und Zeigefingern zugespitzte Bewegung des Zueinander wird noch mannigfaltig unterstützt: etwa durch die Blick-Brücke zwischen Adam einerseits und Gottvater mitsamt den meisten seiner Begleiter andererseits, durch Linien, die aus der Richtung der Gliedmaßen der Figuren hintendieren zu diesem dynamischen Mittelpunkt, der, gemessen am Gesamt der Bildbreite, jedoch in etwa den Goldenen Schnitt markiert, so in aller Ausgewogenheit und Ebenmäßigkeit das Übergewicht des Schöpfers gegenüber dem Geschöpf hervorhebend.
Was uns indessen für unsere nachfolgenden Erwägungen das Leitmotiv abgeben soll, ist ein weit diskreterer und hintergründigerer Zug an diesem Bildwerk. Gemäß unserem abendländischen Schreibfluß fangen die Zeilen von links an – der Schöpfer kommt hier von rechts. So klar die beiden Körperachsen des Adam und des Gottvater wie auch der zu überbrückende Spalt zwischen Erde und Gottesmantel dreifach parallel von rechts unten nach links oben laufen, so deutlich wirkt doch diese Hauptbewegung als Gegenbewegung gegen die Tendenz des erwachenden Adam, der nach vorwärts, in seine Zukunft drängt. Diese Zukunft aber kommt ihm von einem Gottvater zu, von welchem der Betrachter den Eindruck hat, er beuge und bewege sich, den Menschen erschaffend und belebend, nach hinten. Dies stimmt zwar nicht von seiner unmittelbaren Körperbewegung her – sie führt in der Tat auf Adam zu –, wohl aber vom Gesamteindruck dessen, was der Gottesmantel umhüllt: die Mitbetrachter, unter ihnen die auf Eva weisende Zukunfts-Gestalt, blicken sich um, schauen nach rückwärts auf Adam.
Was soll diese mühsame Betrachtung? Mir selbst ist an diesem Bild und seinen Verhältnissen eine nicht unerhebliche Korrektur selbstverständlich mitgebrachter Schöp- [146] fungs-, ja Gottesvorstellungen widerfahren oder zumindest konkret geworden. Denken wir uns nicht die Schöpfung in etwa wie folgt? Auf der linken Seite, am Anfang der Schriftzeile, steht als Ursache Gott. Und dann stößt er, sozusagen vom Rücken her, das Geschöpf und auch den Menschen an. Geschöpf und Mensch gehen weiter in die Bildfläche und Schriftzeile hinein, haben eine offene Zukunft vor sich – und Gott ist im Rücken, seine „Hauptzeit“ ist die Vergangenheit. Die Bewegung läuft von ihm weg, auch wenn er sie natürlich im Blick behält, mitbegleitet und das Ganze vor-sehend und inszenierend verfolgt. Gemäß der an Michelangelos Fresko beobachteten Bildlogik aber – und mir scheint das die Logik des Vorganges selber zu sein – ist Gott in der Richtung des Aufbruchs in die Zukunft dem Menschen je schon voraus. Er ist die Zukunft ohne Ende, ist sie ganz und gar und auf einmal, in einem ewigen Augenblick – und er erweckt etwas, das nicht ist, damit es aufbreche und Zukunft, ihn als Zukunft habe. Sicher, das Endliche hat nicht aus sich die Kraft der Zukunft ohne Maß und Grenze, aber sofern das Endliche Zukunft hat, sofern das Sterbliche Leben hat, kommen Sein und Leben ihnen zu aus dem, der Zukunft ist und gibt. Die Zukunft beugt sich zurück zu mir, ruft mich, rührt mich an. Das erste, was geschieht, wenn das Geschöpf, bildhaft oder im eigentlichen Sinne gesprochen, seine Augen aufschlägt, ist der Blick nach vorne, ist das Schreiten in die Zukunft. Zukunft zugesprochen bekommen, damit fängt es an. Aus der Zukunft führt die Schöpfungsbrücke in meine Gegenwart, so daß ich zur Zukunft hin aufzubrechen vermag.