Trinität und Zeit

Die Fabel vom Igel und vom Hasen – und die neuzeitliche Zeiterfahrung

Jedermann kennt sie von Kindestagen an, die Fabel vom Igel und vom Hasen. Im Wettlauf zwischen Igel und Hase in der langen Ackerfurche rennt der Hase sich zu Tode, weil immer der Igel schon am anderen Ende ist, und doch bewegt der Igel sich selber gar nicht, weil am einen Ende seine Frau, am andern er selbst den Hasen erwartet.

Wie dies bei großen und guten Sinnbildgeschichten der Fall ist, läßt sich das einfache Geschehen in vielfache Richtungen hinein lesen. Doch in der Fülle möglicher Assoziationen wird sich ziemlich sicher ein Moment immer wieder einstellen: Zeit. Sich totzulaufen in einem Wettlauf, der gar keiner ist, das überholen zu wollen, was uns je schon überholt hat, kennzeichnet jene Gefahr, gegenüber der uns die Weisheit der Fabel gefeit sein lassen möchte.

Es wäre nun gewiß fatal, aus solcher „Moral von der Geschicht“ eine Moralpredigt gegen neuzeitliche Selbstherrlichkeit und selbstherrlichen Fortschrittswahn zu machen. Dennoch kann uns die Fabel auf die merkwürdige Dialektik neuzeitlicher Zeiterfahrung, ihrer Größe und ihrer Grenze, verweisen. Die Bedrohung, welche dem Hasen durch den Igel und seine Frau widerfährt, löste sich zum einen, verschärfte sich zum andern, wenn es sich im Grunde um ein bloßes Ein- [349] Personen-Stück handelte, wenn also nicht die heimliche Aufspaltung des einen Partners in zwei, sondern die Zusammenfassung aller zwei oder im Grunde drei Partner in einen einzigen als zugrundeliegende Spielanweisung gälte. Aber wie soll das gehen?

Wenn Zeit – so simpel ist das bei Kant keineswegs, aber Simplifizierungen prägen oft genug Bewußtsein und Erfahrung – schlechterdings nichts anderes mehr ist als die Anschauungsform des Subjekts, dann ist in letzter Konsequenz das in der Zeit Anschauende und Angeschaute das Subjekt selbst, und das Anschauen selber, und zwar nicht nur als theoretisches, sondern als praktisches Geschehen, das alles andere Geschehen begleitet und prägt, ist nochmals dieses selbe Subjekt. Ein bißchen entschlüsselt und in die praktischen Konsequenzen theoretischer Ansätze hinein ausgelegt: Das überkommene, gerade im Mittelalter prägende Zeitbewußtsein ging aus vom Zukommen des Seins zum Menschen und von seinem Zugehen auf das Ziel. Quelle und Ziel sind in ihm anwesend auf die Weise des Strebens und Erkennens, sie bekunden sich in diesem Streben und Erkennen aber als das je Andere und je Größere. Nun aber bereitet sich von langer Hand her ein innerer Umschwung vor. Die Bedingungen, unter denen sich Zukommen des Seins aus dem absoluten Ursprung und Zugehen allen Seins auf das absolute Ziel zeigen, stecken zweifellos im erkennenden und strebenden Subjekt selbst. Zwischen einem Woher und Wohin zu sein, ist so aber nicht nur Bedingung des endlichen Subjekts, sondern dieses endliche Subjekt ist selber so geartet, daß es sich als Woher seines Woher und Wohin seines Wohin zu verstehen vermag. Subjektivität entwirft sich also derart, daß sie sich von einem Woher her und auf ein Wohin hin erfährt – und wird so zum Woher ihres Woher und Wohin ihres Wohin. Dies braucht nicht im Sinn einer ontischen Alleinigkeit des Subjekts verstanden zu werden, es signalisiert jedoch eine Richtung des Erkennens und Strebens: Entdecke dich und vollbringe dich als die Quelle und als das Woraufhin deines Seins, ja allen Seins, das du nur unter den Bedingungen deiner eigenen Subjektivität zu Gesicht und folglich in die Hand bekommst! Dem entspricht ein praktischer Imperativ, der den großen Erfolgen neuzeitlichen Forschens, Planens und Herstellens zugrunde liegt. Man könnte diesen Imperativ etwa so fassen: Werde immer mehr zur einzigen Bedingung und zur einzigen Quelle dessen, was in der Welt ist und was in der Welt geschieht, laß alles immer mehr zu deinem eigenen Kunstwerk, zum Produkt deiner Selbstverwirklichung werden! Mache die Welt immer menschlicher, indem alles zu deinem, des Menschen, Kunstprodukt gerinnt und deinen, des Menschen, selbst entworfenen Bedürfnissen und Wünschen entspricht! Ein den Menschen transzendierendes Wo- [350] her und Wohin wird auf solche Weise immer mehr draußengehalten aus der theoretischen und praktischen Gestalt von Leben und Welt, zumindest aus deren Unmittelbarkeit. Gott wird allenfalls der Gott vor der Klammer. Seine Eingriffe werden aufgeklärt als Folgen bislang noch unerkannter Kausalzusammenhänge, diese selbst werden im Erkennen je besser steuerbar und beherrschbar gemacht, sie werden gezähmt zu Konsequenzen des sich selbst und aus sich alles vollbringenden Subjekts.

Zweifellos werden von diesem neuzeitlichen Ansatz bleibend Veränderungen ins Denken und Verhalten des Menschen eingehen. Auch in einer anders ansetzenden und in einer die christliche Unmittelbarkeit zu Gott integrierenden Weltsicht wird der Mensch mit seiner Mächtigkeit, sich in der Welt auszuprägen und Welt von sich aus zu prägen, Platz finden, nicht im Sinn einer „Verdünnung“ der unmittelbaren Beziehung zu Gott, sondern in einer Steigerung der eigenen und der göttlichen Partnerrolle innerhalb dieser Beziehung. Diese Zwischenbemerkung ist notwendig, um mit den nachfolgenden Konsequenzen nicht reduktive Vorstellungen sich verbinden zu lassen.

Doch auch bei Anerkenntnis der bleibenden Veränderung oder Erweiterung des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses durch die neuzeitliche Wissenschaft, Technik und beiden zugrundeliegende Philosophie sind wir nicht nur durch praktische Probleme, die uns bedrängen, sondern vom Ansatz her in eine merkwürdige Aporie geraten, eben in jene des Ein-Mann-Stückes Igel und Hase. Der Mensch geht aus von sich – und kommt immer nur zu sich. Alles, was er erreicht, ist in seinem eigenen Ansatz schon drinnen, wahrhaft Neues widerfährt ihm nicht mehr, denn alles Neue ist nur das, was er kann. Er wird zum Erfüllungsgehilfen seiner eigenen Pläne und Ansätze, wird von sich selber angestachelt zu immer neuen Anläufen des Weiterkommens – und wird dabei doch je von sich selbst überholt, kommt nie los von sich selbst. Die Freiheit erschöpft sich in der Instrumentalisierung ihrer selbst – und bleibt mit sich allein. Die beiden Spielarten, unter denen der Mensch dies anschaut, sind die Vision der vom Menschen ohne unberührte Ursprungsräume durchorganisierten und ver-brauchten Welt oder aber die Vision des vernichtenden Unfalls, der aus der Möglichkeit totalen Konsums oder totaler Selbstsicherung zu erwachsen droht. Bleibt nur am Rande zu erwähnen, daß die Flucht vor derlei Visionen nur allzu leicht in sie hineintreibt, daß sich im bloßen „contra“ der Ansatz bestätigt, die Geschichte von Igel und Hase sich potenziert.

Destillieren wir aus dem gewonnenen Modell die Momente absolut gesetzter, in solcher Abstraktion notwendig überzeichneten neu- [351] zeitlichen Zeitbegriffs. Zeit ist der Verzehr aller Herkunft ins sich selber setzende, von sich allein ausgehende Subjekt (Rekonstruierbarkeit und damit Entgeschichtlichung der Geschichte, Ersatz der memoria durch intellectus als sich entwerfende Vernunft, schließlich Geschichtsvergessenheit). Zeit ist zugleich das Zustreben auf eine je größere Zukunft, die aber in ihrem Größersein nichts anderes ist als das Größersein des entwerfenden Subjekts und die so je schon von ihm und seinem Sich-Setzen eingeholt, ja überholt ist. Alles Neue, was geschieht, ist schon drinnen in dem einzigen Akteur der Geschichte, dem Subjekt. Gegenwart ist dann die Vermittlung des Subjekts mit sich selbst, die entweder zum Streß des andauernden Unterwegsseins zu sich selbst oder zur lähmenden Langeweile des Eingesperrtseins in sich selbst oder aber zur hektischen Flucht vor der Alleinigkeit und Einsamkeit des Subjekts mit sich selber gerinnt. Beständiger Fortschritt und Erstarrung in sich selbst, Zulaufen auf sich selbst und Fortlaufen vor sich selbst gelangen zu einer ungeheuerlichen Koinzidenz.