Unterscheidungen
Die Flucht vor dem Politischen*
Derlei Vorurteile gegen die Politik sind nicht von heute. Und doch – nochmalige Zuspitzung der Frage nach der Unterscheidung des Politischen – ist das Politische gerade heute gefährdet. Es legt sich nämlich bei näherer Analyse der geistigen und gesellschaftlichen Entwicklung die Hypothese nahe, die Neuzeit sei gezeichnet von der Flucht vor dem Politischen.
Diese Hypothese mag erstaunen. Vieles spricht gegen sie: die „Politisierung“ so vieler Lebensbereiche in totalitären Systemen, aber auch dort, wo man der Freiheit und der Demokratie das Wort redet; nicht zuletzt die Resonanz der eingangs erwähnten Forderung, Christentum und Kirche selbst primär oder gar exklusiv „politisch“ zu interpretieren.
Doch nun: was soll unsere Hypothese? In vielerlei Schritten und Schichten geschah im Verlauf der letzten Jahrhunderte das folgende: Die Gesellschaft emanzipierte sich aus ihr vorgegebenen Ordnungen, sie lehnte es mehr und mehr ab, Ordnungen nur zu reproduzieren, und erhob sich statt dessen zum Anspruch und Versuch, ihre eigene Ordnung jeweils aus sich selbst zu produzieren, sie wollte als Gesellschaft insgesamt Subjekt ihres Handelns werden. Es gehört zum Pathos der Rationalität, das die Neuzeit zeichnet, alles allgemein, somit im Grundsatz für alle durchsichtig zu machen. Was mit der Gesellschaft geschieht, soll der Gesellschaft selbst durchsichtig, in seinem genetischen Zusammenhang erklär- [116] lich werden. Dies aber ist der Schritt dazu, die Genese selbst zu übernehmen, das Geschehen mitzutragen, mitzuverantworten. Vor-Urteile sollen aufgearbeitet, sie sollen zu gemeinsamen, wenn man so will: zu Volksurteilen werden. Es geht hier nicht an, die Stadien solcher Entwicklung von Ideen des Humanismus und der Reformation über die Französische Revolution bis hin zu den großen politischen Schüben des 19. und 20. Jahrhunderts zu verfolgen.
Diese Entwicklung ist nicht rückgängig zu machen, und sie ist nicht zu beklagen. Das Streben nach mehr Freiheit, nach mehr gemeinsamer Freiheit ist legitim. Nach gemeinsamer Freiheit: denn wie anders kann Freiheit verwirklicht werden als miteinander, wenn mehrere frei sein sollen, jeder frei sein soll und doch jeder mit jedem verflochten ist? Pius XII. hat einmal darauf hingewiesen, daß es nicht eigentlich möglich sei, Freiheit aus einem Bereich wieder zu verdrängen, in dem sie sich konstituiert, in dem sie Platz gegriffen hat.
Doch gerade dann bleibt eben auch die Frage zu stellen, ob es wirklich die Freiheit sei, die in einer Entwicklung Platz greift. Und hier setzt unsere Hypothese an, daß die Neuzeit von einer Fluchtbewegung weg vom Politischen gezeichnet sei, wenngleich das Politische, das gemeinschaftliche Handeln der Gesellschaft in ihrer eigenen Sache, seinen Bereich so augenscheinlich ausgeweitet hat. Um der Deutlichkeit willen seien einige Überzeichnungen gestattet. Der Anspruch der Gesellschaft, Subjekt ihres eigenen Handelns zu sein, ihre eigene Ordnung jeweils neu aus sich selbst zu entscheiden und zu prägen, mit der perfekten Kontrolle des politischen Geschehens durch alle einen höchsten Grad der Durchsichtigkeit dieses Geschehens zu erreichen, somit aber möglichst umfassend die eigene Zukunft selber zu entwerfen, erzeugt eine ungeheure Anspannung. Faktisch findet die Gesellschaft sich durch solchen Anspruch weithin überfordert – aufgegeben werden kann er indessen nicht. So aber kommt es zur inneren Umdeutung des Politischen, zur geheimen Flucht vor ihm.
In drei Richtungen vor allem läuft diese Flucht. Die eine bedeutet Reduktion des Politischen auf bloße Rationalität und Rationalisie- [117] rung. Wie kann die „richtige“ Lösung jeweils gefunden, wie kann die Fehlerquelle subjektiver Leidenschaft ausgeschlossen werden? Es scheint am ehesten dadurch, daß alle Vorgänge auf ihre rationale Struktur hin durchschaut werden. Das Feststellbare, Berechenbare wird zum Ganzen und Eigentlichen erklärt. An ihm, an seinen Tabellen, will man das je Gemäße ablesen können. Totale Rationalisierung, Funktionalisierung, im Extremfall gar Ersatz der Entscheidung durch Information und Steuerung aus dem Computer sind Zielbilder eines Strebens nach Sicherung der eigenen Entscheidung, von der man sich überfordert weiß. Dem entspricht die Projektion der faktischen Autorität vom Träger eines Amtes auf den Wissenschaftler, auf den „Magier“ der absoluten und unzweifelhaften „Transparenz“, zu dem man ihn insgeheim erhebt.
In der zweiten Fluchtrichtung versteckt sich die eigene Verantwortung hinter die Mehrheit. Wenn alle entscheiden sollen, dann muß es, in der Tat, Mehrheiten geben. Aus dieser rationalen Notwendigkeit fließt aber oft genug die Ideologisierung der Mehrheit. Was die meisten denken, wird, weil ja schließlich alle denken können, so denkt man, schon das Richtige sein. Oder aber man entschuldigt seine Ratlosigkeit, seine Ohnmacht damit, daß man nichts machen konnte, weil die Mehrheit nun einmal so ist: Mehrheit als Alibi der Verantwortung. Hinzu kommt der Trend der Solidarisierung eigenen Meinens und eigener Maßstäbe mit dem, was in der Mehrheit fraglos und selbstverständlich gilt, also ein Abbau der Spannungen aufs Mehr und Anders zugunsten des immer schmaler werdenden Maßes allgemeiner Konsonanz, das als solches normativen, in sich aber regressiven Charakter annimmt. Verkürzt gesagt: statt eine Mehrheit für das zu suchen, worum es geht, statt um wachsendes Verständnis für etwas und Einverständnis in etwas zu werben, identifiziert man sich mit dem, wofür schon eh und ohne die Anstrengung neuen Ringens um Erkenntnis und Anerkenntnis die Mehrheit ist. So ergibt sich im Extremfall, der sich gesellschaftlich oft genug durchsetzt, die „Mehrheit des Mitleids“, will sagen die Solidarisierung mit jenen, die eine geltende Norm in Konflikte bringt; diese Konflikte sollen institutionell ausgeschaltet, die Norm [118] soll den tragischen Situationen des einzelnen angepaßt werden. Nächst dem „Wissenschaftler“ hat der „Therapeut“ am ehesten Aussicht, Maßstäbe in der Gesellschaft zu setzen. Die Nivellierung der Konflikte durch Grenzbegradigung, ja Grenzreduktion gesellschaftlicher und politischer Normen, die Beseitigung der Konflikte durch den Verzicht auf ihr Objekt sind Gestalten der Flucht vor dem Politischen, vor seinem Anspruch der weiterführenden Phantasie und Gestaltung.
Der dritte Weg der Flucht umgreift zwar im Grunde die beiden genannten Spielarten, erschöpft sich aber nicht in ihnen. Gemeint ist die Flucht in die Ideologie. Es gibt beileibe nicht nur die Ideologisierung der Ratio und der Mehrheit; es gibt auch die Ideologien des Irrationalen und der „wissenden“ Minderheiten, die sich berufen fühlen, ohne Rücksicht auf die Freiheit der anderen ihnen das aufzuoktroyieren, worum es ihrer Freiheit „eigentlich“ gehen müßte. Die schrecklichen Ideologien des Totalitarismus – oder umgekehrt der Totalitarismus schrecklicher Ideologien, denn alle Ideologien wirken ihrem Wesen nach letztendlich totalitär – sind uns aus jüngster Geschichte nur zu bekannt. Gerade hier wird die Flucht vor dem Politischen offenbar: An die Stelle einer Vermittlung zwischen Idee und Wirklichkeit, einer Gewinnung der Wirklichkeit für die Idee und der Idee selbst im Umgang mit der Wirklichkeit tritt die Verkürzung der Wahrheit zur vorgefertigten Parole, der dann die Wirklichkeit, und sei es mit Schrecken, angepaßt wird.