Die Zukunft der Zukunft

Die Frage nach dem Woher der Zukunft

Zukunft der Zukunft, das heißt, wie geht es weiter mit unserem Weitergehen? Diese Frage nötigt uns, nochmals zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren. Zunächst ging uns am Wegmodell, am Modell der Wanderung auf, daß das Weitergehen im Weitergeben sich je verändert, je neu bestimmt. Die Zukunft ist Quelle der Zukunft. Die Frage nach der Zukunft der Zukunft ist Frage nach der Quelle der Zukunft, nach ihrem Woher.

Diese Frage wird, genauer besehen, am Ende unseres Durchgangs durch die Geschichte nur umso dringlicher fällig. Zukunft muß ja zukommen, Zukunft aber kommt uns geschichtlich nicht mehr zu aus einem als Physis verstandenen Ursprung, aus einer Traditio als Vermittlung des vorausgehenden Ursprungs, aus der Ursprünglichkeit des sich und alles mit sich selbst vermittelnden und aus sich selbst heraussetzenden Subjekts. Woher dürfen wir alsdann Zukunft erwarten und verstehen?

Gehen wir der am Wegmodell gewonnenen Einsicht, daß die Zukunft Quelle der Zukunft ist, tiefer auf den Grund. Trifft sie das Modell des Wanderweges, den wir in der Zeit zurücklegen, genauso wie jenen Weg, den wir als Zeit, als Geschichte durchmessen? In der Differenz zwischen dem Zugangsmodell und dem darin Erschlossenen und Angezielten dürfen wir einen Hinweis darauf erhoffen, wie Zukunft als solche aus der Zukunft entspringt.

[40] Zunächst: Wenn ich wandere, dann geht in meinem Bewußtsein mit mir, daß ich morgen vermutlich nicht mehr wandere, sondern irgendwo zu Hause bin und diese Wanderung zu Ende ist. Heute bin ich hier draußen im Gebirge, morgen wieder im Häusermeer, So ist es ein Ausschnitt aus der Welt, eine Sonderwelt, in welcher meine Wanderung geht. Geschichte aber, Zeit, Zukunft: da bin ich ganz und mit allem drinnen, da ist alles drinnen. Nichts bleibt draußen aus der Zukunft. Die Zukunft, das, wie es weitergeht, geht mich und alles an, stellt mich und alles in Frage. Nichts von dem ist klar, was und wie es morgen sein wird, sondern genau das ist die Frage, wenn ich nach der Zukunft frage. Auch das, was in der Geschichte bleibt und gilt, wird morgen vielleicht anders sein und gelten. Und woher weiß ich, wie ich morgen darüber denke? Geschichte geht mich ganz an und geht alles ganz an. Ihr Auszeichnendes, ihr Unterscheidendes ist die Totalität und die Universalität.

Ein Zweites: Einen Weg kann ich noch ein anderes Mal gehen, ein Jahr kann ich nicht noch einmal leben. Wer jetzt nochmals das vergangene Jahr leben wollte, der lebte entweder nicht oder er lebte eben seine Zeit zur Unzeit oder als Unzeit. Die Zeit der Geschichte ist unumkehrbar.

Der tiefste, der radikale Unterschied ist jedoch der dritte: In einer Landschaft habe ich die Perspektive auf das, wohin ich gehe, so vor mir, daß meine Zukunft als Wegzukunft gleichzeitig mit mir ist. Die Zukunft der Geschichte aber ist mir nicht gleichzeitig gegeben, sondern sie wird erst stattfinden. Morgen ist erst morgen. Es gibt in diesem Sinne keine Gleichzeitigkeit des Futurum mit dem Präsens. Das scheint aufs erste ein Trugschluß zu sein. Ich sehe beim Wandern zwar das nächste Stück Weg und Landschaft, aber ich weiß ja auch nicht, ob ich dort ankomme, ob der je jetzige Schritt nicht mein letzter sein wird. Und umgekehrt: Wenn ich morgen lebe, dann lebe ich in dieser Welt, die mir jetzt gegeben ist. Sicher, Wanderschaft ist ein Stück Geschichte, und deshalb ist sie von der Jeweiligkeit, Einmaligkeit, von der Punktualität des Zeitverlaufs im jeweils jetzigen Augenblick aller Geschichtszeit imprägniert. Und Geschichte hat ihren Raum, in dem sie spielt, sie ist insofern ein Stück Wanderschaft, Zukunft spielt nicht im Nirgendwo, sondern, wenn sie spielt, spielt sie im eingeräumten Raum, in den Vorgegebenheiten. Und doch ist das Eigentümliche der Wanderschaft der Ortswechsel, Perspektivenwechsel, Erfahrungswechsel im grundsätzlich Überschaubaren. Geschichte, die in die Zukunft läuft, geht aber ins streng genommen Unsichtige, das Dasein hat trotz aller seiner Vorfrage und Vorsicht und Vorhabe keinen kontinuierlichen Boden vor sich, sondern immer nur Boden für den Schritt, der je jetzt geschieht. Unser Dasein ist stets nur gleichzeitig mit einem einzigen Augenblick. Hier siedeln sich Hoffnung und Angst, Kraft und Lähmung geschichtlichen Handelns an.

Auch wenn wir die Zukunft perfekt ausgerechnet haben, sie „im Griff“ haben, leben wir doch heimlich von der Hoffnung, daß noch etwas anderes stattfinden kann, das wir jetzt noch nicht im Auge haben. Und wenn wir meinen, spätestens übermorgen oder in 3000 Jahren mit unseren Berechnungen so weit zu sein, daß es keine unberechenbaren Faktoren mehr gibt, dann begleitet uns dabei eine heimliche Sorge: Kann dann wirklich nichts Neues mehr passieren? Muß dann alles so kommen, wie wir es ausgerechnet haben? Wir hoffen, daß auch dann das Leben nicht im Wärmetod der Langeweile untergeht. Daß etwas Neues geschehen kann, daß es Überraschungen geben kann, daß also die Zukunft nicht nur die Vollstreckung vergangener, schon vorliegender Faktoren sei: darauf kommt es uns an. Hoffnung auf das Neue, das Unabsehbare, das, was sich gibt und schenkt – nur so hätte Zukunft Zukunft. Paradox: sie hat also gerade insofern Zukunft, als sie nicht sicher ist, als der Boden des Nachher im Jetzt noch nicht unter unseren Füßen ist.

Aber da gehört eben auch die Kehrseite dazu: die radikale Ungewißheit ängstigt. [41] Woher wissen wir – selbst wenn wir alles wüßten, was kommt–, daß das, was kommt, auch wirklich kommt? Wir können nicht machen, daß es kommt, sondern dies muß sich gewähren. Zeit gibt sich nur schluckweise zu trinken. Wir können immer nur von den Brosamen der Zukunft den je gegenwärtigen Augenblick auflesen wie der arme Lazarus.

Hoffnung auf das Neue geht zusammen mit der Ungewißheit, ob überhaupt etwas kommt und nicht vielmehr nichts. Erst dieser radikale Vorbehalt, unter dem die Zeit steht, macht das Problem Zukunft der Zukunft scharf. Einerseits ist es bedrängend, ob nicht all unser Planen und Tun letztlich sinnlos wird, weil es ins Nichts abbricht, und zugleich wird dieses Planen und Tun ironisiert durch eine Hoffnung auf das Unversehene, Unerrechenbare – und rationale Gründe können diese Hoffnung eigentlich nie ausrotten. Es löst sich ein: Zukunft kommt aus der Zukunft. Müssen wir, an diesem Punkt angelangt, unsere Perspektive nicht drehen? Verkürzt und mißverständlich gesagt: Zeit ist nicht nur eine Dimension an mir und an den Dingen, Ich und Welt sind Dimensionen von Zeit. Daß sich etwas zeitigt, daß etwas zukommt, daß sich Zeit begibt und nicht Nichts, daran ist alles gelegen – und nur darin komme ich mir selber in jedem Augenblick zu und kommt sich in jedem Augenblick die Welt zu. Das Kontinuum von Zeit, die Kontinuität der Welt und meines eigenen Ich liegen nicht an der Welt und mir, sie liegen an der Zeit, an dem, was aus der Zukunft her je das Jetzt zeitigt. Ich lebe in der Zuweisung, im Zukommen, über die ich nicht verfügen kann, ich lebe daher immer im letzten bedroht und im letzten beschenkt.