Unterscheidungen

Die Frage nach der Identität des Christlichen*

Das Christliche empfängt seine Identität von innen, von seinem Bezug zu Jesus Christus her. Dadurch erscheint sein Selbstverständnis den Wandlungen der Geschichte enthoben zu sein; es hat in Jesus Christus seinen Fixpunkt. Doch gerade diese Identifikation mit ihm stellt es in die Unabsehbarkeit der Geschichte hinein. Jesus Christus ist das Sich-Geben Gottes an die Menschheit. Solches Sich-Geben enthält zwar ein für allemal, was es gibt; jene aber, denen es sich gibt, sind für das Sich-Geben ebenfalls konstitutiv. Sie sind keine bloß äußeren „Adressaten“, sondern sie sind die Einbezogenen in seine personale communio. Daher gehört ihre Geschichte in die Geschichte des Sich-Gebens Gottes an die Menschen hinein, daher gehören die wechselnden und sich wandelnden Epochen menschlichen Selbstverständnisses ebenfalls in die Identität des Christlichen mit sich selbst hinein.1

Dies bedeutet gerade nicht spannungslose Anpassung, aber es bedeutet ebensowenig unanfechtbare, blockhafte Uniformität, an der die Geschichte vorbeiginge. In Zeiten nun, in denen die Identität des Menschen und der Geschichte mit sich selbst in Frage steht, ist notwendigerweise auch das Christliche besonders hart in die Frage nach seiner Identität gestellt. Näheres Zusehen deckt aber auf, daß solches immer zur Tradition und zum Ereignis des Christlichen gehört hat, gerade auch in Zeiten, in denen das Christliche als eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit erschien. Denken wir etwa an das Mühen des Mittelalters um die Ursprünglichkeit des Geistes Jesu, wie sie in den großen Reformbewegungen zum [91] Ausdruck kam, die schier jedes Jahrhundert Welt und Kirche bewegten.

Heute freilich ist das Verständnis des Christlichen in besonderer Weise unselbstverständlich. Man redet, ob zu Recht oder nicht, vom nachchristlichen Zeitalter; und jedenfalls gibt es Anlässe dafür, daß der Anschein des „Nachchristlichen“ sich ausbreiten kann. In sich zweifellos eine unsinnige Rede: nachchristliches Zeitalter. Denn, recht verstanden, kann es ein christliches Zeitalter gar nicht geben. Das Christliche ist immer das Unselbstverständliche. Wenn es sich als die selbstverständliche Voraussetzung versteht, die keiner Diskussion bedarf, wenn es nicht weiß, daß christlicher Glaube Geschenk und Entscheidung ist, dann hat es sich selbst gründlich mißverstanden. Daß aber Glaube nicht jedermanns Sache ist, daß man Mensch dieser Gesellschaft und dieser Zeit sein kann, auch wenn, ja gerade wenn man nicht Christ ist, das ist heute wiederum zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, wie es seit anderthalb Jahrtausenden nicht mehr der Fall war.

Lassen wir also die Frage nach der Berechtigung und den Anlässen für die Rede vom nachchristlichen Zeitalter einmal auf sich beruhen, halten wir fest: Christentum ist nicht das Gängige und Gewöhnliche, sondern das Außerordentliche, nicht das Selbstverständliche, sondern das Schwerverständliche in unserer Zeit – so haben wir Anlaß genug, danach zu fragen, wie sich in dieser unserer heutigen Situation das Christliche genuin verstehen, wie es im „Außenbezug“ zur Zeit, der nach dem eingangs Ausgeführten ja ein „Innenbezug“ ist, seine Identität mit sich gewinnen und artikulieren könne.

Unsere Zeit ist gezeichnet von dem Nebeneinander vieler unterschiedlicher Deutungen und Verständnisse der Welt, des Menschen und des Sinnes von allem. Wie steht inmitten dieser konkurrierenden Vielheit das Christentum, sein Anspruch, eine ganze und eine letzte Antwort zu sein? Ist Christentum der „Koexistenz“ fähig, und was bedeutet sie ihm?

Unsere Zeit ist zugleich gezeichnet von dem Nacheinander sich folgender Trends und Sogs, sich ablösender Sichten der Welt und [92] des Menschen, die alle die verschiedenen nebeneinander existierenden Formen der Daseinsdeutung und des Daseinsvollzugs in ein je anderes Licht, in einen je neuen geschichtlichen Kontext rücken. Wer einen Standpunkt festhält, kann nicht einfach bei ihm bleiben, er muß ihn sich selbst und anderen in wechselnden Phasen je wieder neu interpretieren. Der Christ kann kaum mehr einfach eben Christ sein, er ist dadurch, daß er heute Christ ist, gefragt, was er heute als Christsein verstehe.

Es gibt also einen doppelten Pluralismus: den des Nebeneinander und den des Nacheinander. Es gibt die Differenz der Meinungen zueinander und die Differenz der einander folgenden Selbstverständnisse und Selbstdeutungen einer Meinung.

Dieser doppelte Pluralismus ist indessen zusammengehalten durch eine Klammer: durch das Angewiesensein aller auf alle in der Welt, das zu einer Unteilbarkeit der Situation und zu einer gemeinsamen Verantwortung gegenüber dieser Situation führt.

Der doppelte Pluralismus und die eine Situation mit ihrer allen gemeinsamen Verantwortung ergeben eine formale Grundstruktur unseres Zeitalters, der entlang sich unsere Frage nach dem, was in ihm christlich heiße, entfalten kann.


  1. Vgl. Welte, Bernhard: Die Lehrformel von Nikaia und die abendländische Metaphysik, in: Schlier, Heinrich/Mußner, Franz/Ricken, Friedo/Welte, Bernhard (Hg.): Zur Frühgeschichte der Christologie (Quaestiones disputatae 51), Freiburg i. Br. u. a. 1970, bes. 100–105. ↩︎