Die Wahrheit Jesu

Die Frage nach der Wahrheit Jesu

Unsere Situation ist gekennzeichnet von einem neuen Interesse an Jesus und zugleich von einer merkwürdigen Ratlosigkeit ihm gegenüber.

Die klassischen Aussagen der Christologie treffen und bewegen kaum; Aussagen über Jesus, die heute gängig und eingängig sind, laufen hingegen leicht Gefahr, mehr über uns, unsere Bedürfnisse und Sehnsüchte als über ihn selbst zu sagen. Es ist zuwenig, ihn durch metaphysische Kategorien in die Landschaft des Seienden einzuordnen; es ist aber auch zuwenig, ihn hineinzuaktualisieren in die Landschaft heutigen Empfindens, Erfahrens und Mögens. Bloß metaphysische Wahrheit akzeptiert der Mensch nicht mehr als seine Wahrheit; gegen eine Wahrheit, die bloß die seine wäre, hegt er indessen den Verdacht, daß sie nicht die ganze, nicht die wahre Wahrheit sei.

Was es der Botschaft und Gestalt Jesu so schwer macht, mehr als subjektive Erfüllung, als hilfreiches Motiv, als ethischer Impuls, als faszinierendes Ideal zu sein, ist das Verhältnis zur Wahrheit und das Verständnis von Wahrheit im heutigen Bewußtsein. Als wahr wird anerkannt, was den Kriterien moderner Wissenschaftlichkeit entspricht.

Hierbei liegen zwei Grundverhältnisse – teils sich mischend – in Konkurrenz. Das eine ist noch immer geprägt vom Maßstab des „clare et distincte“ eines Descartes. Will sagen: Wahr ist, was kontrollierbar, was nur so und nicht anders erklärbar, eindeutig durch diese und keine andere Ursache bedingt, allen Zufälligkeiten bloß subjektiver Beobachtung entkleidet ist, sich ins Kontinuum aller Daten und ihrer Verrechenbarkeit einbringen läßt. Das andere Grundverständnis von Wissenschaft und entsprechend von Wahrheit läßt sich in etwa [96] signalisieren durch die Position des kritischen Rationalismus (Hans Albert): Letzte, unüberholbare Wahrheit kann, ja darf es gar nicht geben; Wissenschaft entwirft je neue Modelle, um die Wirklichkeit je besser, je genauer zu erklären; aber indem sie diese Modelle entwirft, ist sie bereits verpflichtet, sie auch wieder zu falsifizieren, das neue, weiterreichende Gegenmodell vorzubereiten. Es ist müßig, die unzähligen Schattierungen und Abwandlungen auszubreiten, die zwischen diesen beiden Positionen möglich und faktisch mächtig sind.

Zwei Eckdaten im Spektrum solchen Wahrheitsverständnisses blockieren indessen, erschweren zumindest den Zugang zur Wahrheit Jesu. Wenn nämlich Wahrheit nur so weit reicht wie wissenschaftliche Sicherbarkeit oder wenn der Anspruch bleibender und unbedingter Wahrheit als schlechterdings unvereinbar mit dem Ethos der Wissenschaft und ihres Fortschritts gilt, dann fällt der Anspruch Jesu nicht in den Horizont dessen, was der Begriff Wahrheit abdecken kann.

Drehen wir einmal die Perspektive und gehen nicht vom heutigen Verständnis von Wahrheit, sondern von Jesus und seinem Anspruch aus. Wenn Jesus nur etwas für den Menschen, wenn er nur Hilfe zu seiner Selbstfindung ist, dann enttäuscht er gerade die Erwartung, die in ihn gesetzt wird. Antworten, die sich aus der Frage herausrechnen lassen, sind keine. Aber auch jene Antworten sind keine, die nicht zu ihrer Frage finden. Eine bloß objektive Christologie und ein bloß subjektives Jesuszeugnis vermitteln das nicht, geben das nicht weiter, worum es in ihnen doch geht. Die Wahrheit Jesu ist allein dann Wahrheit, wenn sie integrale Wahrheit ist: Wahrheit, in welcher der Mensch aufgeht, aber zugleich mehr als der Mensch: Gott selbst.

Die Frage heißt: Welcher Art ist solche Wahrheit, und wie kann sie als Wahrheit erschlossen, verständlich, plausibel werden?