Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“
Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“
[95] „Winter in Wien“1– ein frommes Buch? Vielleicht das frömmste, das Reinhold Schneider schrieb. Muß einer, der als Theologe und gar als Kirchenmann dies sagt, sich indessen nicht unter das sanfte, aber durchdringende Gericht stellen, das hier über theologisches Bescheidwissen ergeht? Erinnert sei an Reinhold Schneiders Einwand gegen das Lehrstück Claudels „Das Buch von Christoph Columbus“: „Aber werden denn die Gläubigen bewegt, wenn ihnen demonstriert wird, wie geschickt Gott gerade auf krummen Linien schreibt?“ (13) oder an des Autors Not mit einer theologischen Disussion: „Ich kann nur staunen über diese Kunst, über alle Gefährlichkeiten hinweg und ohne diese zu leugnen, den Gott der Liebe zu demonstrieren“ (241). „Ganz betroffen war ich von der Kühnheit einzelner Definitionen. Aber die sind wie Lurche: sie schlüpfen durch die Finger. Und es ist alles gesagt – und nichts ist gesagt“ (241). Der Versuch, zu vereinnahmen und zu verharmlosen, wird abgewiesen von der Unberührbarkeit jener Erfahrung, die sich im „Winter in Wien“ dem Dichter und dem Leser zumutet. Doch wenn der Leser die Frömmigkeit aufbringt, die pietas, die Dinge sein zu lassen und stehen zu lassen, können sie ein Gespräch und eine Geschichte mit ihm und in ihm eröffnen. Aus den Verwirrungen und Erschütterungen eines unbefangenen Mitgehens mit Reinhold Schneiders Weg durch seinen letzten Winter kann ein Drama in fünf Akten erwachsen, von dem ich im folgenden einige Notizen mitteilen möchte. Erster Akt ist die Entdeckung, daß der Dichter, der an die äußerste Grenze geraten ist, an sie geriet und an ihr standhielt in einer Haltung, für die sich eben das Wort Frömmigkeit anbietet. Aber was ist mit dem geschehen, der zuvor so anders fromm schien, der über Abgründe hinwegzuhelfen vermochte, die jetzt neu in ihm selbst aufbrechen? Der zweite Akt gilt genau dieser Frage: Was ist geschehen? Wie kann das Gesicherte, Bewährte so erschüttert werden, ja entgleiten – und [96] welche neue Kontur gewinnt es im Entgleiten? Die Frage des dritten Aktes heißt: Was bleibt? Sie sammelt nicht Reste und Trümmer, sondern stößt vor zu tieferen Fundamenten. Den vierten Akt kann sich der Christ freilich nicht ersparen: die Rechenschaft über Dissonanzen, die sich in der behutsamen Bergung des Bleibenden nicht lösen. Und dann muß eben ein letzter Akt dem Lebenkönnen und Glaubenkönnen angesichts dieser Dissonanzen gelten.
Ausgeschrieben werden kann dieses Drama in ein paar Seiten nicht, sie werden kaum mehr als erste Andeutungen sein.
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Die im Text in runden Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf: Schneider, Reinhold: Winter in Wien. Aus meinen Notizbüchern 1957/58, Freiburg i. Br. 1958. ↩︎