Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Die Funktion der positiven Philosophie

Der Weg über die „unsystematischen“, aber bestimmenden Komponenten der positiven Philosophie hat unser Mitdenken von allein auf den systematischen Ort und Zusammenhang der positiven Philosophie geführt.

Das reine Denken hatte sein Worumwillen, das Prinzip, das das- Seiende-seiende nur als eingeschlossen ins Seiende; das, was sein Wesen und alles Wesen selbst trägt, allem Was, aller Möglichkeit schlechthin vorausgeht, war ihm nur durch dieses Folgende, durch das Seiende hindurch und von ihm her erreichbar. Es hatte das Prinzip also gerade nicht als Prinzip. Auch in der anderen, systematisch nicht unmittelbar tragenden Grundstellung des reinen Denkens, in welcher es sich das undenkliche Daß als solches voraussetzt, hatte es dieses nicht als Prinzip; denn von dieser reinen Voraussetzung vermag es nicht unmittelbar fortzugehen.

Die sich dem reinen Denken so am Ende stellende Aufgabe war der Weg zum Prinzip. Das ungeschiedene Ineinander der Idee, die alles zusammenschließt in eine allgemeine Grundfigur des Denkbaren und also Seinkönnenden, als welches der Inhalt reinen Denkens, das Seiende in seiner Figürlichkeit sich weist, mußte auseinandergesetzt werden. Dies geschah – der Weg wurde nur programmatisch, nicht in seinem immanenten Gang angezeigt –, indem das Seiende als die [117] Möglichkeit seines eigenen Seins verstanden, hypothetisch von der unmittelbaren Potentialität in die, somit selbst nur hypothetische Aktualisierung überführt wurde. So trat die Trennung seiner Pole, des Seienden und des das-Seiende-seienden ein, ideell, im Gedanken wurde das Prinzip gewonnen als allem verselbständigten Was gegenüber und von ihm geschieden, in sein reines anfängliches Daß erhoben. Der Weg des Denkens vom Seienden aus durch die negative Philosophie führte in seinem hypothetischen Absehen von Gott abschließend gerade zum Begriff Gottes, welcher der reinen Voraussetzung des absoluten Daß im bloßen Denken entspricht1. Die negative Philosophie bringt so der reinen Voraussetzung, dem „Anderen“ allen Denkens, das diesem als absolute Wirklichkeit schlechthin zuvorkommt und von dem es unmittelbar nicht ausgehen konnte, den Begriff entgegen, in welchem das Denken es nun- mehr erreicht: eine Wissenschaft wird möglich, die vom Prinzip ausgeht, von ihm her denkt, die also das Prinzip zum Prinzip hat2.

Von der rein rationalen, negativen Philosophie gilt, „daß sie das eigentliche Prinzip nur zum Resultat, daß sie Gott erst als Prinzip, aber nicht zum Prinzip hat. Es entsteht deshalb, sobald der Begriff der ersten Wissenschaft da ist, auch schon der Gedanke einer zweiten, welche das Prinzip (Gott) nicht bloß als Prinzip, sondern zum Prinzip hat, und die existieren muß, weil ihretwegen das Prinzip als solches gesucht wird.“3

[118] Die systematische Stellung der positiven Philosophie: vom Prinzip aus zu denken, das Wirkliche als Wirkliches, allerdings gerade nicht notwendig, sondern frei abzuleiten, erhellt die philosophie-geschichtliche Bedeutung, die sie für Schelling einnimmt: sie ist ihm der philosophische Durchbruch von der Kritik Kants, die keine Erkenntnis jenseits des Bereichs möglicher Erfahrung mehr zuließ, zu einer neuen „behauptenden“4 Philosophie, die zwar kein quantitativ abzuschließendes, aber in anderer Weise gerade ein totales, weil die Wirklichkeit in allen ihren Dimensionen einbeziehendes , System“ darstellt5. Positive Philosophie ist antwortendes, durch das Ausgehenkönnen vom Prinzip die Fraglichkeit der bloßen Vernunft hinsichtlich der Wirklichkeit und die Fraglichkeit der Wirklichkeit hinsichtlich des sie tragenden Grundes und die Fraglichkeit des Prinzips hinsichtlich seiner wirklichen Macht, seiner Göttlichkeit beantwortendes Denken.

Negative Philosophie rückt hierdurch ebenfalls aus dem Stadium der bloßen Kritik, wächst über den Kantischen Ansatz hinaus, wird für Schelling zum die Antwort eröffnenden fragenden Denken: „Wenn Kant am Ende seiner Kritik alles Positive (Dogmatische) von der Vernunft abweist, geschieht ganz dasselbe vonseiten der richtig verstandenen negativen Philosophie; nur darin liegt ihr Unterschied von Kant, daß sie das Positive positiv ausschließt, d. h. zugleich es in einer anderen Erkenntnis setzt, was Kant nicht getan hat.“6 „Antwort“ und „Frage“ des Denkens bezeichnen hier Entsprechendes zu dem, durch ihre in sich geschlossene Einsinnigkeit, die auf freie Kausalität hinzielt, indessen doch wieder Verschiedenes von dem, was in unserer anfänglichen Ermittlung fragendes und antwortendes Denken bedeuteten.

Die Aufgabe, welche der positiven Philosophie zufällt, die, mit dem Begriff des reinen Daß aus der negativen Philosophie versehen, von der Wirklichkeit des reinen Daß auszugehen vermag, ist vom Gesamten der Denkbewegung her die folgende:

  1. Sie hat den Begriff, der auf das absolute Prius hin ihr aus der [119] negativen Philosophie zugeht, von der Wirklichkeit des absoluten Prius her zu denken. Was sagen die im Seienden gewonnenen Bestimmungen, wenn sie von dem ausgehend gedacht werden, der das Seiende ist, wenn sie also das sind, was er ist? Das absolute Prius, das reine Daß, muß der Idee wieder zugeführt, von sich aus ins Verhältnis zur Idee, zum Seienden gedacht werden, aus deren Implikation es gerade gelöst war.

  2. Dieses neue Verhältnis muß als Verhältnis der Freiheit aufgehen, als zugleich positive Möglichkeit und Nichtnotwendigkeit, Seiendes, Idee, als Potenz eigenen, außergöttlichen Seins zu verwirklichen, ohne daß dabei, so oder so, das Prinzip sich verliert. Hier geht in Schellings Verständnis das Prinzip, das absolute Prius als göttlicher Gott auf, d. h. als wirklicher Herr des Seins7. Alles, was de facto in der Welt der Erfahrung begegnet, stellt dem Denken der positiven Philosophie letztlich diese Aufgabe: die Göttlichkeit Gottes, seine Herrschaft über die Geschichte, seine Freiheit, aus der das Geschehende geschieht oder die durchs Geschehende durchkreuzt zu werden scheint, als sich bewährend zu erweisen. Der Blick auf die systematische Stelle und Aufgabe der positiven Philosophie bestätigt einesteils, daß hier das Andere aller einsamen Ableitung des Denkens, daß hier die beziehentliche Wirklichkeit an sich selbst ins Denken drängt. Zugleich erscheint in der positiven Philosophie aber nicht nur der Durchbruch in ein anderes Feld des Denkens, sondern die Fortsetzung und Vollendung der Bewegung, die durchs reine Denken und durch die negative Philosophie hindurchführte und sie erbildete.

Einerseits war diese ganze Bewegung um der positiven Philosophie willen in Gang gekommen: Die Hinaussicht des Denkens aufs Sein, die mit dem Denken identisch, sein Wesen ist, erreicht erst ihr Maß, wo sie das Sein als Sein, als wirkliches begreift, die Figürlichkeit des Inhaltes reinen Denkens und die kritische Auseinandersetzung und Entwicklung dieses Inhaltes in der negativen Philosophie waren nur Zurüstung, um den Begriff der wirklichen Wirklichkeit zu gewinnen, den die positive Philosophie alsdann gibt. Und nicht nur und nicht zuerst um die Wirklichkeit wirklicher Sachen [120] ist es dem Denken bei seiner wesentlichen Hinaussicht aufs Sein zu tun, sondern um das Sein schlechthin, um die Wirklichkeit des absoluten, alles tragenden Grundes, Schellingisch gesprochen nicht um das Sein des Seienden, sondern um die Wirklichkeit des das-Seiende-seienden: sie aber war das auf dem ganzen Wege des Denkens Gesuchte, Vorbereitete, das in der positiven Philosophie endlich sich gibt. „Wenn die negative Philosophie allein und für sich geblieben wäre, hätte sie für die Vernunft selbst kein positives Resultat, die erkennende Vernunft gerade bliebe in Ansehung ihres eigenen Inhalts unbefriedigt und ginge leer aus … Die erste Absicht ging von Anfang an auf die positive Philosophie.“8

Anderseits erscheint so aber auch die Positivität der positiven Philosophie als die Ergänzung der negativen, die dieser, der Vernunft als solcher, zum Triumph verhilft9. In der Tat ist, wie schon angedeutet, die positive Philosophie nicht nur Umkehrung und Sprengung des anfänglichen Ansatzes des Denkens bei seinem Inhalt, dem Seienden, sondern dessen Konsequenz. Das Seiende als der seinen tragenden Akt implizierende Inbegriff aller Wasgehalte bleibt das Modell des zu Denkenden auch noch in der positiven Philosophie, die gerade das Gegenteil bloßer Gegenständlichkeit, die absolute Freiheit und also wirkliche Beziehung zu denken sucht: diese Freiheit wäre nicht, Gott selbst wäre nicht, wenn er nicht „etwas“ wäre, in Freiheit ist er doch nur, wenn er sich zu den Möglichkeiten dieser Freiheit, zum Seienden als Inhalt also, verhält10.

So eignet der positiven Philosophie eine denkwürdige Ambivalenz: Sie eröffnet ein Denken, das über das gegenständlich-beherrschende, vorstellende Denken abendländischer Metaphysik hinausweist und bewegt sich doch im Medium dieses metaphysischen Denkens.


  1. Vgl. zum Ausgeführten Einleitung in die Philosophie der Mythologie, 24. Vorlesung, bes. 562–564. ↩︎

  2. Der letzte Begriff der Vernunftwissenschaft erscheint XI 562/63 selbst als Begriff des ideefreien reinen Daß, aber eben nur: als sein Begriff, dem das nicht mehr begriffene, sondern nur es selbst seiende reine Daß entspricht bzw. gegenübersteht. Hingegen wird der funktional selbe Gedanke XIII 168 anders artikuliert. Hier stellt er den „absolut immanenten Begriff, den des höchsten Wesens“ und den „absolut transzendenten Begriff (den des notwendig Existierenden)“ einander gegenüber. Ob die Differenz und Gleichung zwischen dem Begriff des reinen Daß und seinem mit ihm identischen Begriffenen, der Wirklichkeit dieses Daß, oder zwischen dem Begriff des vollkommensten Wesens und dem noch Begriff genannten, aber hier für seine identische Wirklichkeit gesetzten notwendig Existierenden geschieht, ändert am Gedanken selbst nichts, um den es hier geht. ↩︎

  3. XI 366 f. ↩︎

  4. Vgl. XIII 133. ↩︎

  5. Vgl. ebd. und XI 564: „positives, die Wirklichkeit erklärendes System“. ↩︎

  6. XIII 153. ↩︎

  7. Vgl. zum Ausgeführten XI 570/71. ↩︎

  8. XIII 153. ↩︎

  9. Vgl. XIII 155. ↩︎

  10. Vgl. XI 587. ↩︎