Wahrheit und Liebe – ein perichoretisches Verhältnis

Die gegenseitige Perichorese von Wahrheit und Liebe

Achten wir auf die Sprachspiele, die uns unterlaufen sind, indem wir von Wahrheit und indem wir von Liebe jeweils als perichoretischem Verhältnis in sich selber sprachen.

Bei der Wahrheit trugen sich uns, aus der aristotelisch-thomistischen Tradition [113] her, zunächst Ausdrücke auf wie convenientia, adaequatio, conformitas: Bewegungen also der Annäherung, des Sich-Ausstreckens zueinander und Angezogenseins voneinander. Sich überschreiten, Sein im anderen, das andere in sich tragen haben zur Voraussetzung die gegenseitige Anziehung, jene Phänomene also, die zu nennen wir nicht umhinkommen, wenn von Liebe die Rede ist. Was im personalen Miteinander als Liebe sich entfaltet, leiht uns das Wort, um jene elementaren Verhältnisse und Ereignisse zur Sprache zu bringen, die je schon geschehen sind, wo Erkenntnis (und somit Wahrheit) geschieht. In einem ontologisch fundamentalen Sinn wird hier bereits deutlich: Wahrheit „ist“ Liebe, Wahrheit trägt in sich jene Liebe zwischen Sein und Denken, ohne die alles im Sichtlosen und Sprachlosen, in der kommunikationslosen Punktualität versänke. Wer Wahrheitsgeschehen versteht, hat Liebe verstanden, kann nur von einem elementaren Verstehen von Liebe her das Wahrheitsgeschehen zu jener Sprache bringen, die diesem seine Identität verleiht.

So ist es denn ein Wunder zwar, aber nicht zu verwundern, dass der Ort von Wahrheit, der Ort des Zusammenkommens und gegenseitigen Sich-Umarmens von Denken und Sein das Gespräch ist: Gespräch als die Menschen zueinander bringende, ineinander gegenwärtig setzende Bewegung der Einheit von Worten, Gedanken, Partnern in der Vielheit, die sich ins Selbe aufhebt und vollbringt und hier doch zugleich als Vielheit neu konstituiert wird. Woher sonst als von Liebe her soll das Gespräch verstehbar sein, in welchem Wahrheit schon je ist und in welches sie je neu kommen muss, um sich zu entbergen?

Nein, der Dialog der Wahrheit und der Liebe lassen sich nicht auseinanderreissen, sonst ist Wahrheit keine Wahrheit und Liebe keine Liebe. Schon in einem elementaren, ontologisch grundlegenden Sinn gilt dieses Ineinander, es ist die Bedingung von Wahrheit, wie natürlich auch umgekehrt die Bedingung von Liebe.

Und schliesslich ging Wahrheit uns auf als Teilgabe und Teilnahme, als Gewähr des Ursprungs und von ihm geweckte Mitursprünglichkeit, als Ereignis, das über den unendlichen Unterschied zwischen unbedingt und bedingt hinweggreift und in der Unterschiedenheit Einheit zwischen beiden stiftet. Nur die grundlose Ursprünglichkeit der aus sich selber anfangenden Liebe macht verstehen, ohne es verfügend zu verfremden, was im Ineinander und Auseinander zugleich der absoluten und der menschlichen Wahrheit geschieht.

Ist das Seinsmystik, Bildersprache, Verfremdung in ein anderes Genus des Denkens und Redens hinein? Oder aber jene Erzählung der Ursprünge, die von der strengen Begrifflichkeit selbst empfangen und geliehen werden müssen, damit diese ihrerseits nicht im Sprachlosen und Sichtlosen versinkt? Und solche Anleihe ist nicht nur (wenn schon gewiss auch) die Not des Versagens von Endlichkeit vor dem, was grösser ist als sie. Die Endlichkeit ist gerade im „Bild“ des personalen Geschehens, letztlich des Geschehens der Liebe in den Stand gesetzt, das Unendliche, das Unaussprechliche, das „An-sich“ benennen, begreifen, fassen zu können. Der unaustilgbare „Rest“ der Anschaulichkeit ist zugleich Überschuss über das, was der Begriff in sich selbst nicht zu leisten vermag. Gäbe es da nicht auch etwa ein perichoretisches Verhältnis zwischen Begriff und Bild, Begriff und Erzählung zu bedenken?

[114] Wie aber steht es mit der Perichorese zwischen Liebe und Wahrheit auf seiten der Liebe? Unser anderer phänomenaler Ansatz in der Betrachtung von Liebe, den wir um ihrer selbst willen gewählt haben, lässt uns auch anders vorgehen im Erörtern dieser Frage.

Der Ernst der Liebe, ihr Überschritt über jede Weise von blosser Nützlichkeit und Verrechenbarkeit mit anderem liegt darin, dass es da um dich selbst, um mich selbst, um die Liebe selbst geht. Um mich und dich und Liebe nicht in irgendeiner ihnen äusseren Hinsicht, sondern um ihr Sein selbst. Sicher ist Liebe unmittelbar, scholastisch ausgedrückt, der transzendentalen Bestimmung des bonum und nicht des verum zugeordnet. Doch die Konvertibilität dieser beiden Bestimmungen hat gerade ihre Spitze im Vollzug der Liebe. Liebe greift auf das bonum in seiner Konkretheit zu, es geht ihr nicht um irgendein Gutes, sondern um das concretissimum der Person. Und ihr Organ ist wiederum nicht irgendein „Vermögen“ des Menschen, sondern er selbst, sein Selbst- und Eigensein, seine Personalität. Liebe, die sich in solcher Konkretheit ergriffen, fasziniert, hingerissen vom zu Liebenden findet, ist aber gerade nicht blind. Sondern Liebe ist die kritische Kraft schlechthin, die nichts anderes gelten und stehen lässt als je dich selbst und mich selbst und so gerade die Liebe selbst. Liebe geht auf das Gute aus; aber das Gute ist ja das wahrhaft Gute, das vere bonum, das in Wahrheit Gute, du selbst in deinem wahren Sein. Von dir selbst bin ich als ich selbst, ich in meinem wahren Sein herausgefordert. Wahrheit ist so die Unterscheidungsmarke, der kritische Punkt der Liebe selbst. Wo Liebe sich nicht stellt und ich mich nicht stelle in Liebe, verrät sie ihr Mass und verliert sie ihr Wesen. Dies ist der Grundzug, der unsere skizzenhafte Phänomenanalyse von Liebe in allen ihren Schritten leitete. Liebe ist also nicht nur hermeneutischer Schlüssel zur Wahrheit und so in ihr präsent, sondern Wahrheit ist auch das Kriterium der Liebe und so von dieser in sich selbst umfasst. Wahrheit als Wahrheit verstehen ist Bedingung für wahre Liebe, wie Liebe Ursprung, Organ, Vollzug und Ort von Wahrheit ist.