Personale Hilfe in einer technisierten und rationalisierten Welt

Die gegenwärtige Situation der Hilfe

Unserer Besinnung ist die Aufgabe gestellt, das Wesen personaler Hilfe nicht abstrakt zu bedenken, sondern seine Chancen und Gefährdungen, seine Situation in unserer Welt. Insgeheim geschah das schon im Voraufgehenden. Denn in einer anderen Welt als der unseren, in einer anderen geschichtlichen Stunde als der heutigen wären unsere Gedanken anders ausgefallen. Wir leben in einer rationalisierten und technisierten Welt. Unsere Reflexion galt dem Personalen, dem Mitsein zum Selbstsein. Diese [174] Worte, also das Gegenteil dessen, was die Ausdrücke „rationalisiert“ und „technisch“ beschwören, sind heute erst gebräuchlich; sie waren im ganzen Gang der abendländischen Geistesgeschichte zuvor noch nie so wie heute thematisch geworden. Ist das nicht ein Hinweis auf eine geheimnisvolle Gleichzeitigkeit von Gefährdung und Eröffnung des Personalen in unserer Zeit? In der Tat erwachen auch für die personale Hilfe in unserer Welt mit einer neuen Bedrohung neue Möglichkeiten.

Technisierung und Rationalisierung bestimmen unsere Zeit. Was heißt das? Die Welt wird ein Vorratsspeicher von Möglichkeiten der Produktion und der Nutzung durch den Menschen. Diese Möglichkeiten sind auszuschöpfen nicht mehr von Einzelnen in ihrem in sich geschlossenen, für sich selbst seinen Sinn und seine Frucht garantierenden Werk, erfordert ist vielmehr ein weltweit sich verschränkendes Zusammenwirken aller mit allen. Dem Einzelnen fällt eine begrenzte Funktion, in ihr freilich eine welthafte Verantwortung und mit ihr zugleich eine tiefe Abhängigkeit vom Ganzen zu, um leben zu können. Je mehr sich die Gesellschaft zum allumspannenden Werk durchorganisiert, um so größer wird das Interesse aller ihrer Glieder, Anteil an den Produkten dieses Werkes zu erhalten. Dieser Anteil besteht in den immer besseren Bedingungen der Erhaltung, Sicherung und Entfaltung der Existenz in der Welt. Die erste Seite der Spannung, bei der mögliche Hilfe ansetzt, die Spannung des Menschen auf die Bedingungen seines Daseins in der Welt, erhält eine ungeheuerliche Dringlichkeit. Diese Spannung ist dadurch angeschärft, daß keiner sich allein helfen, kein Einzelner auch dem anderen Einzelnen hier noch entscheidend helfen kann. Die Befriedigung der Bedürfnisse und Wünsche ist allein den umgreifenderen Gemeinschaften, letztlich nur dem Ganzen selbst, möglich. Da aber umgekehrt dieses Ganze ebenso auf den Beitrag der Einzelnen in der Erfüllung ihrer Funktionen angewiesen ist, verliert die genannte Spannung das Gesicht der klassischen „Hilfsbedürftigkeit“. Es entsteht etwas wie gegenseitige Angewiesenheit aller aufeinander, und die Einzelnen erheben ihren Anspruch an das Ganze. Vieles, was früher deutlich den Charakter der Hilfe trug, ist heute in den nüchternen Austausch der Funktionen, in den Ablauf von Forderung und Leistung hinein neutralisiert. Gewiß, die Behebung aller Nöte durch rationalisierte gesamtgesellschaftliche Hilfen oder besser: Dienste läßt je neue sachhafte Nöte offen, die dann doch wieder einer Hilfe bedürfen, welche spontan die Not entdecken und beheben muß. Von der Gesamtkonzeption einer technisierten Welt her sind solche nicht ins totale Funktionsnetz eingepaßten Nöte jedoch nur Restbestände einer an sich zu überwindenden Epoche.

Wie man bei der Produktion die Unsicherheitsfaktoren auf Grund menschlichen Versagens immer perfekter auszuschalten trachtet, so auch bei den Diensten für die Einzelnen: Die Verlagerung vom persönlichen Einsatz auf das kontrollierbare Funktionieren des Apparates wächst an. Zugleich steigert sich aber auch der persönliche Einsatz, er wendet sich je verantwortungsvollerem, mehr Umsicht und Kenntnis forderndem Entwerfen und Steuern der Funktionen zu. Entsprechendes gilt auch vom Personalen [175] in den sachlichen Dienst- und Hilfefunktionen für den Menschen. Die Person greift immer mittelbarer, mit immer mehr apparatellen und gesteuerten Hilfen in diesen Dienst ein. Doch wird dieser Dienst weniger verantwortungsvoll, muß die sachliche Vermittlung etwa ärztlicher Kunst durch diagnostische und therapeutische Methoden den personal-unmittelbaren Kontakt verringern? Kann nicht im Ganzen der Entwicklung, die eben schematisch und verkürzt umrissen wurde, vielleicht gar mehr freier Raum der Begegnung, der Menschlichkeit, des Personalen erschlossen werden? Die Dugerechtigkeit in der Sachgerechtigkeit war auch in jenen Zeiten nicht erzwingbar, in denen jeder sachliche Dienst mit dem Kraftaufwand der Person des Helfers verknüpft war, das Hören aufs Du bleibt immer unherstellbares Geschenk. Die größere Perfektion der sachlichen Seite von Hilfe birgt zwar in sich die Versuchung, sich mit dem tadellosen Verabreichen quantitativer Leistungen zufriedenzugeben; doch erstens ist eben die größere Sachgerechtigkeit ein Ziel gerade der personalen Hilfe, und zum anderen ist der Raum fürs Hören und fürs Gespräch, fürs eigentlich Helfende der Begegnung, durch sachliche Vervollkommnung und Erleichterung nicht notwendig eingeengt.

Oder sollte man darüber traurig sein, wenn Hilfe, Hilfe im Sinne eines ausdrücklichen Sich-Annehmens ausdrücklicher Not, weniger erforderlich wird? Traurig, weil man um seine Berechtigung als Organisation oder Institution der Hilfe bangt? Hilfe will, so sahen wir, nie sich selbst, Hilfe will sich, freilich aber nicht das Helfenkönnen, überflüssig machen. In der Tat sprang bislang mit jeder neuen Entwicklung der Gesellschaft auch eine neue Dimension der Not auf, die Hilfe, die Zur-Stelle-Sein erfordert. Und ist dieses sehende, Wege und Mittel der neuen Hilfe bereitende und bereithaltende Zur-Stelle-Sein, dieses Auf-dem-Sprung-Bleiben für die sich wandelnde Situation und für alle Not, die im schiefen Winkel zum Fortschritt der Gesellschaft liegt, ist dieses „Dasein“, in dem das Wesen der personalen Hilfe beschlossen liegt: ist dies alles nicht drängende und bleibende, noble Aufgabe genug? Mit einem Seitenblick auf die Organisationen gesagt, die der Hilfe dienen: Es geht um dieses Zur-Stelle-Sein, um dieses stets wache, alle Entwicklungen achtende, ja ahnende An-der-Zeit-Sein, um dieses gesamtmenschliche und so gerade christliche Engagement, um diese wirkliche Subsidiarität, und das heißt doch: um eine Hilfeleistung an die Gesellschaft. Mehr darum geht es als um Kompetenzen. Beharren auf alten Konzeptionen, Bleiben im eigenen Saft, solches könnte tödlich sein. Es kommt nicht darauf an, daß wir helfen, sondern daß geholfen wird, das bleibt uns aufgegeben, das muß unsere Sorge sein.

Bisher hatten wir mehr die Chancen der Hilfe in der technisierten und rationalisierten Welt im Auge als deren Gefährdung: Der sachliche Ausgleich der Spannungen des Menschen auf die Bedingungen seines Lebens in der Welt ist leichter und vollkommener geworden, der Raum wächst, den gesteigerte Rationalisierung und bessere Methoden der Hilfe einem Sich-Begegnen lassen. Doch das ist nur die eine Seite.

Die ungeheuere Konzentration der Gesellschaft aufs Werk der Technik, auf die Ausbeutung aller Möglichkeiten und Energien und entsprechend [176] das Interesse am Anteil aller an dieser Ausbeute ist die eigentlich verbindende Gemeinsamkeit. Was dieses Werk und was der Anteil an ihm aber soll: das zu deuten, sich selbst darin zu verstehen, bleibt dem Einzelnen überlassen. Gott sei Dank, daß es keine vorgeformte Sinndeutung des Daseins gibt. Gefährlich aber, wenn die Frage nach einem letzten Sinn nicht mehr gestellt wird, und noch gefährlicher, wenn diese Frage beantwortet wird, ohne daß man selbst es war, der die Antwort gab, ja ohne, daß man die Frage stellte. Diese Gefahr steht indessen an.

Wieso? Jeder muß seine Funktion erfüllen, jeder soll gleiche Chancen des Anteils an der Welt haben, jeder also auch gleiches Recht, das anzufangen, das zu glauben, das zu äußern, was er will. Natürlich soll er das. Aber unter der Hand droht das gleiche Recht eines jeden auf seine Meinung zur gleichen Gültigkeit jeder Meinung für mich, ja am Ende zu meiner eigenen Gleichgültigkeit gegenüber jeder und meiner Meinung zu werden.

Etwas Festes, Verbindliches, Unzweifelhaftes gibt es gleichwohl; man könnte es nennen die „vier technischen Pflichten“: die Pflicht, selbst zu funktionieren; die Pflicht, das Ganze in seinem Funktionieren aufrechtzuerhalten; die Pflicht, den Anderen, wenn er nur mitfunktioniert, in Ruhe zu lassen; schließlich die Pflicht, mit den Anderen zusammenzufunktionieren, um der eigenen Gruppe möglichst viele Anteile am Ganzen zu sichern. Diese vier Linien umschreiben das leere Quadrat meiner Freiheit, nebenan liegen die Quadrätchen der Freiheit meiner Nächsten. Es geht mit aller Energie um die Quadrate – was man hineinschreibt, ob man überhaupt etwas hineinschreibt, das interessiert nicht, das ist das Zufällige, Unsichere, so oder anders zu Regelnde. Die auf ihren gleichen Anspruch und auf ihre gleiche Funktionsbereitschaft gesetzte Person bleibt leergelassen, ihre Freiheit ist formal, herrschende Dimension des Daseins wird das Quantitative. Und da eben entstehen die zwei Spielarten der großen, der personalen Not: Entweder wächst die Spannung im inneren Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt an bis zum Bersten, die große Not der Einsamkeit, oder diese Spannung ist dem Bewußtsein des Menschen abhandengekommen, die entscheidenden Fragen Warum? Wozu? werden nicht mehr gestellt.

Die Spannung der Existenz auf ihre Bedingungen in der Welt verliert in der technischen Welt immer mehr das Gepräge der Hilfsbedürftigkeit, die Spannung der Existenz auf ihr Einssein mit sich und der Welt hingegen erhebt sich zum lauten, oder, nicht minder eindringlich, zum stummen Schrei nach Hilfe, nach Hilfe, die wahrhaft Hilfe ist, nach dem das Ich zu sich bringenden Mitsein des Du. Personale Hilfe tut not wie vielleicht nie zuvor.

Diese Hilfe muß indessen, heute so dringlich wiederum wie kaum einmal zuvor, in strengster Treue zum Wesen der Hilfe geschehen. Das heißt einmal: Sie muß aus der Horizontalen kommen, aus der Gleichheit des Mitseins. Nicht klagen über die Einebnung der Welt durch die Technik in die Gleichschaltung, in die eine, ebene Dimension, sondern einsteigen in die Solidarität, ins Gleichsein, wie es ja menschlich und christlich immer zur Hilfe gehört! Hilfe von oben ist dem Menschen von heute unver- [177] ständlich und unerträglich, sie ist, von Gottes eigenem Planen her, auch des Menschen nicht würdig.

Hilfe, die ihrem Wesen gemäß geschieht, das heißt zweitens: Sie darf nicht abseits von der sachlichen Verflechtung der Gesellschaft, sie muß vielmehr in ihr geschehen. Nur so ist sie personal; denn Person, so sahen wir, ist nichts, aber sie ist da. Das hat weittragende Konsequenzen: Personale Hilfe muß sich in der Alltäglichkeit, im Apparat, im Funktionszusammenhang abspielen, im vorgegebenen Miteinander-Verbundensein. Da, wo ich mit dir zusammengeschaltet bin, da, wo ich dir etwas zu geben habe oder du mir etwas zu geben hast, da, wo wir zusammenarbeiteten oder -essen, da, mitten in der Sachlichkeit, muß ich du sagen zu dir, da durchhören durch die belanglos ausgetauschte Rede aufs Du. Es muß freilich auch das persönliche „Nebenan“ zur sachlichen Atmosphäre geben, den Raum des Privaten, in den man den Anderen „zu sich“ lädt, oder auch den Raum, der fürs helfende Gespräch eigens anbietend offensteht. Entscheidend aber ist der Zugang, und er geschieht dort, wo der Andere ist, wo ich schon jetzt und ohne zusätzliche Aktion beim Anderen bin. Mitsein heißt ja: sein, wo der Andere ist.

Wir kommen hier von selbst nochmals auf die erstgenannte Forderung, die des Gleichseins, zurück. Ich soll mich nicht künstlich gleich machen mit dem Anderen, so daß man den vorherigen „Niederstieg“ beobachten könnte. Ich bin gleich. Nicht einmal bei dem, der wirklich „von oben“ kam, sah man dieses Kommen vom Himmel her. Die Himmelfahrt war sozusagen halböffentlich, die Kreuzigung war öffentlich, die erste Ankunft ganz verborgen. Wir sind wirklich, von uns her und unserer Situation her, wo die Anderen sind. Wir können nicht helfen. Wo das Helfen gekonnt ist, hilft es nicht mehr – sachliche Dienste müssen freilich gekonnt sein. Wir sind miteinander, aber wir wollen darin, daß der Andere sei. Wir sagen in der Sachlichkeit, und ohne sie zu mindern, dennoch und zugleich Du.

Wird hier nicht offenbar, wie die Situation, die das Personale bedroht, das Personale doch ruft? Wie Wesen der Zeit und Wesen des Personalen genau dieselben Forderungen stellen? Bei näherem Eingehen ließe sich zeigen, wie, in Geistliche gewendet, die Spiritualität etwa der kleinen Therese oder Charles’ de Foucaulds genau aus dem Herzen des Evangeliums und ebenso genau aus dem Herzen unserer Zeit geschnitten sind.

Das am Wesen der personalen Hilfe Abgelesene lesen wir auch ab an der Physiognomie unserer Welt, es ist beidemal dasselbe. Personale Hilfe ist kein Was, sondern ein Wie, keine Zutat zum sachlichen Dienst, sondern die Tat dieses sachlichen Dienstes. Um noch einmal die Anwendung zu ziehen auf die Organisationen, die ausdrücklich der Hilfe dienen: Das Entscheidende der Hilfe kann nicht von ihnen geleistet werden, es muß geschehen in der Verwandlung der Situationen äußeren Zusammentreffens zur Begegnung, zum wahrhaften Mitsein. Das Entscheidende an Hilfe kann nicht von den Organisationen geleistet werden, wohl aber soll es mit ihnen geleistet werden. Dreifach sollen sie mitsein mit der Hilfe. Sie sollen exemplarisch die sachlich immer [178] besseren Methoden und Mittel der Hilfe zur Hand geben und entwickeln, sie sollen das wache Auge darauf haben, wo ungesehene und unbewältigte Not nach Hilfe ruft, sie sollen das Gewissen für uns alle sein, das unser Helfenwollen auf gemäße Weise stützt und uns die Hilfe recht verstehen lehrt. Umschlagplätze der vielfältig versuchten und vielfältig bedurften Hilfe sollen sie sein – Mitseiende im unvertretbar von mir zu dir angeforderten Mitsein personaler Hilfe.

Wir alle sind freilich zu müde, zu strapaziert, zu ichverfangen und zu weltverbraucht, um uns jedesmal, wenn wir einem Anderen begegnen, in die Offenheit des hörenden, sich selbst vergessenden Mitseins zu rufen. Müßten wir uns nicht, wir als Christen, gegenseitig darin bestärken und gemeinsam darum bemühen, daß wir der Welt dieses nicht schuldig bleiben, was sie von uns als Mitmenschen erwarten und von uns als Jüngern Jesu fordern kann? Wir allein, jeder für sich, wir können das nicht. Aber Einer kann es, und Er hat versprochen, bei uns zu sein, wenn wir mit Ihm verbunden sind. Sollten wir das nicht, wenn wir beieinander sind, vielleicht gar, sooft wir beieinander sind, ausdrücklicher suchen und ungenierter einander bewußt machen, damit wir dann auch in der Plage der Alltäglichkeit, dort, wo wir wirklich eingelassen sind ins Werk und in den Verkehr mit allen, wacher und offener für alle und für jeden Einzelnen wären? Etwas von dem sollte immer in und zwischen uns allen sein: „Wo zwei oder drei in Meinem Namen versammelt sind, da bin Ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20).