Propädeutische Überlegungen zur Glaubensvermittlung

Die Geschichten als Vermittlungsgeschichten*

Einige Fragen sollen uns diese Vermittlungsgeschichten aufschließen: Was wird jeweils vermittelt? Wer vermittelt? Wie geht der Weg der Vermittlung, und was ist das entscheidende Moment für ihr Gelingen? Welches Ergebnis zeitigt die Vermittlung?

  1. Was wird in der Geschichte von David und Natan vermittelt? David wird der Zugang zu seiner Schuld vermittelt. Nachdem Urija tot und Batseba seine Frau geworden ist, war die Sache für David erledigt. Regieren ist eben kein zimperliches Geschäft, da geht nicht immer alles glatt auf. Daß der Vorfall Konsequenzen für seine Beziehung zu Gott haben könnte, kommt ihm nicht in den Sinn – zumindest läßt er den Gedanken nicht aufkommen. Wer vermittelt? Dem Propheten Natan kommt die unangenehme Aufgabe zu, dem König Gottes Sicht kundzutun und ihn mit der erschreckenden Wahrheit seines Lebens und dem Gericht Gottes zu konfrontieren. Wie verläuft der Vermittlungsprozeß: Wo liegt der Einstieg, wo das auslösende Moment, wo das Ergebnis? Der Prophet erzählt zunächst die Geschichte mit dem Lamm. Hätte er diesen Einstieg weggelassen und den König direkt auf sein Vergehen angesprochen, David wäre zweifellos nicht so tief getroffen worden von der Ungeheuerlichkeit seiner Schuld. Das vermittelnde Moment ist eine Geschichte, die das unmittelbare Interesse des Königs als eines Mannes, der anderen Recht spricht, hervorruft. Diese Geschichte, unverhofft ausgelegt als die seine, setzt ihn plötzlich in die Unmittelbarkeit zu seiner Schuld, so daß er sie sich nunmehr zu eigen macht und die Strafe übernimmt. Der Erfolg der Vermittlung liegt darin, daß sich David der Wirklichkeit mitsamt den Konsequenzen reumütig stellt. Der springende Punkt war der Zu-spruch der „neutralen“ Geschichte an das Gewissen des Königs: „Du bist dieser Mann!“

  2. Stellen wir dieselben Fragen an die Pfingstgeschichte. Die spontane, aber zweideutige Beeindruckung der Menge von dem merkwürdigen Verhalten der vom Geist Ergriffenen, die in vielen Sprachen reden, bedarf der Vermittlung. Als Vermittelnder tritt Petrus hervor und gibt, das augenscheinliche Phänomen von seinem verborgenen Grund her erklärend, Zeugnis vom Kommen des Geistes; das Geschehene wird als Krafterweis des Geistes Jesu deutlich. Das vermittelnde Moment ist die deutende Botschaft. Sie tritt mitten ins Herz und löst die Frage aus: „Was sollen wir tun?“, eine Frage, die die Bekehrung einleitet. Eine scheinbar unmittelbare Erfahrung, die aber in ihrer Unmittelbarkeit nicht „spricht“, erhält im Horizont des Glaubens erst ihre Bedeutung, und so wird eine neue Unmittelbarkeit ermöglicht. Auslösend war der Zu-Spruch der Botschaft, die die Zuhörer in das angemessene Verhältnis zu dem Geschehen einwies.

  3. Den tiefsten Einblick in das Geheimnis der Vermittlung gewährt uns das dritte Beispiel. [106] Hier wird die unaufgearbeitete Geschichte, das ungelebte Leben eines Menschen vermittelt. Angestoßen, ausgelöst wird die Vermittlung durch die Schlüsselfrage nach der Mutter. Indem diese überraschende Frage der Schwester den Betroffenen mit seiner eigenen Geschichte vermittelt, ihn erstmals in Beziehung zu sich selber bringt, geschieht noch eine weitere Vermittlung. In der Geschichte ihres Bruders wird Mutter Maria Theresia ihre eigene Geschichte vermittelt, wird ihr eine neue Beziehung zu sich selbst geschenkt. Die Geschichte des Fremden wir zu ihrer gemeinsamen Geschichte, in der sich freilich noch eine dritte Geschichte leise andeutet: Sowohl in der Zuneigung der Ordensschwester wie auch in der Abweisung des Gefangenen erkennt der Glaubende den Erlöser wieder, der in seine Geschichte das Lieben und das Leiden eines jeden Menschen zutiefst einbezieht und so die getrennten Geschichten in eine gemeinsame Geschichte wandelt.