Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Die Grunderfahrung der „Entfremdung“in Schellings Denken und ihre Bedeutung für die drei Ebenen der Spätphilosophie
Wenn das Denken darin sein Wesen hat, das Seiende als die Figur universalen Wesens zu setzen, wenn das Denken also prädizierendes Denken ist, so ist das Prädikat, welches vom Denken gesetzt wird, dieses Prädikat an sich selbst, als mitteilbar und als ursprünglich seinem Subjekt zugehörig. Es ist also konsequent, daß es drei Ebenen des Denkens gibt: Denken, welches explizit das Prädikat und implizit darin sein Subjekt setzt – reines Denken; Denken, welches das im Prädikat Gesetzte, die Möglichkeiten des Prädikats, auseinander- und darin das Subjekt an sich selbst freisetzt – negative Philosophie; Denken, welches das Subjekt als Subjekt des Prädikates und so beide in ihren Zusammenhang und ihre Distanz setzt – positive Philosophie.
Der Ansatz, die Auseinanderfaltung und die Zusammengehörigkeit der drei Ebenen der Philosophie im Sinne Schellings scheinen geklärt.
Wahrhaft geklärt sind sie aber erst, wenn der potentielle, bloß prädikative, als figürlich zugleich auf sich und über sich hinaus bezogene Charakter des Denkens dem Denken selbst geklärt ist. Die nicht ursprünglich aus dem System ermittelte, vielmehr im System nur vermittelte Differenz zwischen bloßem und ganzem Denken, zwischen Gedanke und wirklicher Wirklichkeit trat immer wieder in unseren Blick, am schärfsten bei den Anlässen der positiven und im Umschlag der negativen in die positive Philosophie. Diese Differenz fordert nun ihre Erhellung.
Ohne die vorgängige „praktische“ Differenzerfahrung zwischen der theoretischen Kontemplation und dem Andrang der wirklichen Daseinssituation fände sich das Denken nicht genötigt, seine eigene Reichweite zu überschreiten1 – Erfahrung, die nur die Ableitung des Denkens bestätigte, fiele gar nicht als das „Andere“ des Bestätigten auf. Doch nicht nur die positive Philosophie hätte keinen Anlaß anzufangen, wenn die reine Kontemplation genügte, ohne [148] die Not erfahrener Entfremdung des Gedachten in der Wirklichkeit ginge die Figur des reinen Denkens auch nicht immanent über sich hinaus, um die in ihr enthaltenen Möglichkeiten in ihre logische Wirklichkeit hinauszudenken und das Prinzip so aus seiner Implikation ins bloße Wesen herauszulösen – diese Implikation, die „Ohnmacht“ des Prinzips in der Bestimmung Denken bliebe selbst verborgen.
Das Gesagte scheint dem Zug des Wollens zu widerstreiten, das Schelling der Vernunft als solcher, wie gesehen, zuerkennt2: Vernunft will ihren stehenbleibenden Inhalt. Dieses Wollen ist der Vernunft wesentlich, so alt wie sie selbst. Doch daß sie dieses Gewollte im Gedanken des Prinzips, der das reine Denken beschließt, gerade nicht hat, daß das Ende des reinen Denkens es nicht in sich vollendet, sondern aporetisch in seine Konsequenzen über sich hinaustreibt, wird offenbar allein an einem Maß des Denkens, das es von jenseits seiner selbst ruft, das ihm den Vergleich des bloß gedachten mit dem als solchem wirklichen und mächtigen Prinzip erlaubt oder gar abnötigt.
Doch daß der „Fall“, daß das praktische [sic!] Bedürfnis des Ich nach dem göttlichen Gott so zur Achse des ganzen Gedankens der Spätphilosophie würde, scheint nicht anzugehen. Die positive Philosophie ist menschliches Denken, Mit- und Nachdenken, gewiß, sie hat es zur Voraussetzung, daß es etwas, daß es den Menschen gibt. Doch die rein rationale ist, nicht zwar der Form und Folge ihrer Gedanken nach, aber in ihrem Inhalt wesenhaft nichts anderes als der sich in Gott selbst ein- und zutragende Gedanke seines möglichen Anderen. Freilich, dieser Gedanke seines möglichen Anderen, dieser Gott selbst aus der Ananke starren Selbstseins lösende und in seine freie Göttlichkeit lichtende Einfall3, führt an sich selbst bis zur Konstruktion der Möglichkeit des sie verselbständigenden Anderen, des möglichen Falles. Schelling verwahrt sich gegen das Hineintragen des Falles in Gott und in die Schöpfung als solche4, aber er plant die Möglichkeit des Falles und so diesen selbst doch ein in die Ökonomie seines systematischen Ansatzes. Der Fall ist [149] ihm nicht Zusatz zum Selbstsein des endlichen Ich als eines solchen, vielmehr ist die Selbstsetzung des Ich, der Urakt seines Selbstbewußtseins an sich selbst der „Urzufall“, der Fall also und somit eine Bedingung des an sich selbst freigegebenen Selbstseins der Kreatur, das in der Erlösung wieder in die Einheit mit Gott zurückvermittelt wird, ohne seine Freiheit einzubüßen So ist nicht der Fall, aber doch die in ihm sich vollstreckende Dynamik konstitutiv für die Ausgliederung der Ebenen der Spätphilosophie, und dies gilt demnach nicht erst für die positive Philosophie, sondern auch für die negative, die um jener willen gesetzt ist.
Es liegt nicht im Interesse dieser Untersuchung, Schellings Lehre vom Fall systematisch zu entfalten. Der Grundzug seines Denkens, der hier zum Durchbruch kommt und der dieses Denken, seine Art, seinen Gang und in der Folge sein Verhältnis zu Gott wesentlich prägt, soll indessen hier zur Sprache gebracht werden. Ohne ihn wäre die Spätphilosophie im Ganzen, wären die Anlässe zu ihrem Spiel auf drei Ebenen nicht erhellt.
„Ergriffenheit“ begegnete uns als die das Denken Schellings kennzeichnende Grundstimmung: Im Denken begibt sich stets das Größere als nur das Denken, Denken ist mit sich gleich nur, indem es größer ist als es selbst, Stätte des Größeren als es selbst. Ohne diesen wesentlichen und durchgängigen Zug in Schellings Denken wären seine Stufen der Entwicklung, ihre Folge und der Vorstoß der Spätphilosophie zur medialen Ursprünglichkeit des Denkens nicht verstanden.
In diese erste qualitative Differenz des Denkens in sich selbst reift eine andere ein. Auch sie wurde beiläufig bereits erwähnt. Das Denken ist „zwar nichts anderes“ als das Sich-Denken des Absoluten selbst. Doch das Denken, wie es sich findet in uns, unser Denken, muß sich erst dazu aufmachen, in diesen seinen wesentlichen Standort einzukehren. Der Imperativ des Sich-Lassens des Denkens an das Denken und an jenes, was im Denken als es gründend sich lichtet, zieht isch durch alle Stufen und Schichten des Schellingschen Werkes. Immer gilt es, einen möglichen Stand des [150] Denkens oder des denkenden Ich in sich allein aufzugeben ins wesentliche Verhältnis der Einheit des Denkens mit dem Ursprung, gleichviel ob dieser nun als ursprüngliches Denken oder als vordenklicher Ursprung angesetzt wird. Ist die Gestalt solchen Imperativs: das praktische Geheiß der Zukehr des Ich zum lebendigen Gott5 am Umschlagspunkt der negativen in die positive Philosophie auch neu, neu zudem der in solcher Umkehr eröffnete Weg des Denkens, die positive Philosophie, so doch keineswegs die Dynamik der Umkehr überhaupt, welche das Denken zu nehmen hat, um in sein Wesen, in seine Identität mit sich zu gelangen.
Dann aber geht notwendig ein Fall des Denkens oder des Ich aus dem Wesen, oder ein Abstieg des Denkens oder des Ich zu einer Ferne vom Ursprung, oder ein Ursprung des Denkens oder des Ich in der Differenz zum Ursprung und also zum Wesen dem angezielten Aufstieg, der geforderten Ein- und Umkehr voraus, mag nun die Bewegung des Abstiegs eine Bewegung des absoluten Ursprungs bzw. des wesentlichen Denkens selbst oder eine Bewegung des Absteigenden, Abfallenden gegen den Ursprung bedeuten.
In formaler Allgemeinheit gesagt: Die positiv gerichtete qualitative Differenz des Denkens, je größer zu sein als es selbst und so mit sich identisch zu sein, kann als Differenz nur aufgehen aufgrund ihrer Verflechtung mit einer gegenläufigen, also negativ gerichteten qualitativen Differenz des Denkens. Die Formel dieser negativ gerichteten qualitativen Differenz des Denkens könnte lauten: Das Denken muß größer sein als es selbst, um mit sich identisch zu sein, es ist also in seiner sich faktisch findenden Unmittelbarkeit kleiner als es selbst.
Die Formalität des Gesagten könnte uns indessen irreführen: Der Aufgang der „positiven“ qualitativen Differenz des Denkens, seiner Ergriffenheit, ist nicht an eine Fall- oder Schulderfahrung des Denkens als Bedingung geknüpft. Zu klein zu sein vor dem zu Denkenden, übermächtigt zu sein von diesem, sein Zeuge zu sein, ist nicht Fehler, sondern Rang des Denkens, seine zweite Stelle ist seine Würde. Aber in dieser Differenz des Zeugnisses zum im Zeugnis Bezeugten und der Stätte zum an seiner Stätte Anwesenden ist die [151] Möglichkeit der Nichtentsprechung, der Verselbständigung, der Behauptung dem Ursprung gegenüber grundgelegt, sie kann hier und nur hier entspringen.
Die negativ gerichtete Differenz differenziert sich also in sich selbst. Sie ist in ihrer ersten, notwendig mit dem Denken als solchem verbundenen Gestalt nur die Kehrseite der schon gedachten positiv gerichteten Differenz. Wenn das Denken sich selbst als Zeugnis und Anwesenheit des Größeren als es selbst verstehen darf, dann bezeugt es einen „Abstieg“ des in ihm Bezeugten und Anwesenden im Sinne eines Sich-Öffnens, Sich-Gebens und -Mitteilens, in denen dieses Bezeugte nicht kleiner, sondern allererst „herrlich“ wird.
Die ihre eigene Gestalthaftigkeit transzendierende Gestalt des Schönen, in welcher das Unbedingte aufgeht, das sich als solches in keiner bloß bedingten Gestalt einholt, die Entzogenheit der unbedingten Identität in ihrer Anwesenheit in Subjektivität, Objektivität und Indifferenz, der Unterschied der Gottheit und ihres Grundes in der Freiheitsphilosophie weisen, um kurze Titel zu nennen, in Schellings Denkgeschichte auf diesen konstitutiven Descensus und Ascensus des Unbedingten in sich bzw. des Unbedingten zu sich als Denken und im Denken hin.
Unter dem konstruktiven Sinn solcher Gedankenfiguren liegt ein nicht mehr nur konstruktives Interesse, liegt die Grunderfahrung des Ereignisses, das der Ursprung in seinem Anfang ins Denken „ist“: sich schenkende Gewähr und darin gerade Aufgang zu sein im Denken übers Denken.
Doch es gibt eine zweite, von der ersten getragene, aber nicht in ihr notwendig enthaltene Gestalt negativer Differenz, und sie darf als zweite Grunderfahrung des Schellingschen Denkens gelten: Unser Denken findet sich eben nicht ohne weiteres in der Einheit mit sich und mit dem Ursprung, und es findet die Wirklichkeit um sich nicht in der Einheit mit sich und dem Ursprung, die sich in den besprochenen Differenzen gerade als sein sollend und wesentlich artikuliert. Wenn etwas ist, wenn ist, was immer ist, so ist letztlich doch nichts anderes als der absolute Ursprung selbst: dies ist die denkende und im Denken sich ausweisende Schau des Identitätssystems. Aber woher ist dann das Viele, das ist, in seiner gesonderten, seine Identität mit der absoluten Identität gerade verbergenden [152] Einzelheit, woher das isolierte Ich, das sich erst von sich loszureißen hat ins Einswerden mit der absoluten Identität?
So darf, verkürzt und verallgemeinert, die Frage formuliert werden, die das Denken Schellings spätestens seit „Philosophie und Religion“ (1804) im Identitätssystem über dieses hinaus und dann in die anderen Regionen des Gedankens treibt, die es in der Freiheitsphilosophie, der Weltalterphilosophie, den Erlanger Vorträgen bis hin zur Spätphilosophie durchmißt.
Diese Frage, die Frage der „Entfremdung“, der Verlust der anfänglichen und wesentlichen Einheit bezeichnen indessen schon lange vor dem Identitätssystem den Einsatz des Schellingschen Philosophierens. Werner Marx hat in seiner Freiburger Antrittsvorlesung „Die Bestimmung der Philosophie im Deutschen Idealismus“ darauf hingewiesen6. Stephan Portmann widmet dem eine eigene, einläßliche Untersuchung des Gesamtwerkes Schellings7. Wie W. Marx betont, ist der Ansatz bei der Erfahrung der Entfremdung dem jungen Schelling mit seinem damaligen Freund Hegel gemeinsam8, doch zielt Schelling von Anfang an über die Philosophie als Theorie hinaus, sie hat nur dienenden, sich überholenden Sinn auf das Ereignis der Wiederherstellung der verlorenen Einheit hin9.
Fragen wir, wie diese zweite Gestalt der negativ gerichteten Differenz mit der ersten zusammenhänge, so zeigt sich dreierlei:
a) Erst hier, bei dieser zweiten Gestalt der Differenz, kann eigentlich vom Fall, Schuld, Bösem die Rede sein, weil hier erst ein Bezug gesollter Entsprechung verfehlt sein kann: Wenn an sich Einheit sein sollte, warum ist dann Entfremdung, Vereinzelung, Trennung?
b) Gleichwohl ist, auch vor aller Konstruktion, der Zusammenhang dieser Differenz mit der zuvor genannten sichtbar. Weil das [153] Unbedingte unausdenklich groß, im Denken als es übertreffend anwesend ist, weil also kein bloßes Einerlei des Unbedingten und seiner Anwesenheit im Denken waltet, kann eine Abwendung, Trennung, Verselbständigung des Denkens oder seines Gedachten vom zu Denkenden selbst gedacht werden. Tiefer noch: weil das Unbedingte im Denken da und groß und herrlich sein soll, ist das Denken nicht nur aufgehoben im Unbedingten, sondern kann es von ihm betroffen sein, sich an sich selbst, sich in seiner Differenz zu ihm finden und so sich möglicherweise verselbständigen.
c) Die dynamische Entsprechung der beiden negativ gerichteten Differenzen kann einem „figürlich“ gearteten, einem die Kurven seiner Bewegung, seiner Dynamik ausziehenden Denken wie dem Schellings10, Anlaß geben, die Verschiedenheit der Erfahrungen in der Einheit seiner Konstruktion zu verwischen: Schellings Denkweg schwankt zwischen einem Aufheben der Entfremdungserfahrung in den Prozeß der bloßen Selbstentfaltung absoluter Identität auf der einen und einem Subsumieren der seinlassenden, anderes Sein gründenden Selbstüberschreitung des Absoluten unter die Bewegung des „Falles“ auf der anderen Seite.
In der Spätphilosophie ist es Schelling gerade um die Scheidung der beiden negativ gerichteten Differenzen zu tun, um die phänomenale Genauigkeit bezüglich der Erfahrungen und um die denkerische Genauigkeit bezüglich der Reichweite konstruktiver Ableitung: Er unterscheidet zwischen dem Seinkönnen des Anderen des Absoluten durch sein freies Seinlassen und dem sich selbst setzenden Sich-Behaupten dieses Anderen, zwischen Schöpfung (die er in „Philosophie und Religion“ noch ablehnt11) und Fall.
Doch auch hier noch sieht er das Dasein der sinnlich wahrnehmbaren Welt, ja der Vielzahl der einzelnen „Ich“ verwurzelt im Fall, in der Gegenbewegung des Geschaffenen gegen den Schöpfer, und hält anderseits diese Ichwerdung des Ich im Urzufall, in seinem Verständnis also: den Fall selbst, für ein, wenn nicht an sich, so doch ökonomisch notwendigen Moment der Gesamtbewegung, in [154] welcher sich der freie Selbststand der Schöpfung erbildet und mit Gott alsdann wieder, nunmehr aber frei, als Selbststand, versöhnt werden kann. Das Denken der Beziehung nimmt sich indirekt in die Einsamkeit des Systems zurück.
Wir stehen also, was unsere Frage nach dem Anlaß der Ausgliederung der Spätphilosophie betrifft, durch die letzte Überlegung vor folgendem Befund: Zwei Grunderfahrungen des Denkens bringen dieses in Bewegung über sich hinaus. Beide sind aufeinander bezogene, aber wesenhaft verschiedene Differenzerfahrungen. Einmal erfährt das Denken, nicht nur es selbst, sondern Zeuge des Früheren und Größeren als es selbst, des Unbedingten, zu sein. So hat das Denken, das sich zu sich einholt, sich aufzumachen zum Größeren seiner selbst, es wird im Ganzen: Weg zum Prinzip, Erhellung des Prinzips als eines solchen. Dies ist die erste Differenzerfahrung und ihre Folge.
Zum anderen erfährt das Denken die Differenz des Faktischen: es ist unmittelbar nicht mit sich und nicht mit dem Unbedingten einig, es findet nicht den Inhalt, aber den Modus der Erfahrung, nicht, was ist, aber das Wie dessen, was ist, als „entfremdet“ vor und entdeckt in dieser Entfremdung den Imperativ der Versöhnung und Einung. So muß es zu begreifen suchen, wie die Faktizität der Entfremdung zustande kommen konnte, und muß dies begreifen vom Prinzip her. Der Imperativ, das Prinzip als Prinzip zu denken, artikuliert sich durch den Widerstreit des vom Prinzip offenbar und scheinbar Getrennten, das Prinzip muß sich angesichts dieses Getrennten als Prinzip erweisen: es ist Prinzip nur, wenn es Ursprung des Getrennten, zugleich Nichtursprung der Trennung und wiederum Ursprung möglicher Wiedervereinigung des Getrennten ist.
So legen die miteinander verschränkten Grunderfahrungen des Denkens die Anlässe offen, aus denen das gegenläufige und doch eine Geflecht der Bewegungen des Denkens erwächst, in denen sich die drei Ebenen der Spätphilosophie erbilden.
Wieso aber die Rücknahme der in den Grunderfahrungen eröffneten Beziehungen in die Einsamkeit entwickelbaren Systems? Die Antwort auf diese Frage ist bereits gegeben: Denken ist für Schelling das Denken. Daß das Denken größer ist als es selbst, macht es [155] für ihn nicht zum Andenken an ein nicht mehr auszudenkendes Sich-Zudenken Gottes, sondern zum immanenten constituens, durch welches er erst „in sich“ Gott, in sich Herr des Seins, sich selbst Übertreffender ist. Daß das Denken kleiner ist als sein Maß, macht umgekehrt den Abfall zum (obschon freien) Moment des Sich-Gewinnens des Denkens, mag dieses auch göttlicher Vermittlung bedürfen. Schelling ist also bewegt von dem, was die Einsamkeit und Vollendbarkeit des Denkens in sich selbst überschreitet, er denkt es aber mit den Mitteln eines vollendbaren und alleinigen Denkens.
In der aus solchen Anlässen und solchem Instrumentarium erwachsenden Philosophie der Spätzeit reflektiert er die wesentlichen Gestalten des eigenen philosophischen Weges. Es ist bezeichnend, daß sie dabei zu geschichtlichen, ja in gewissem Sinne heilsgeschichtlichen Stufen werden, doch zugleich eben: zu Stufen, zu ökonomisch einplanbaren Epochen der Entwicklung. Fichtes das Selbstbewußtsein setzende Tathandlungen, in etwa entsprechend der eigene transzendentale Idealismus der Frühzeit werden ihm zum „Fall“, zur Setzung der Welt durch das Sich-Wollen des Ich. Das Identitätsdenken wird zur Abkehr des Ich von sich, zur kontemplativen Rückwendung ins Absolute, die aus sich aber Gottes und somit ihrer selbst nicht in Wirklichkeit gewiß und mächtig wird, sondern jener göttlichen Vermittlung bedarf, in der das Denken zum Begriff Gottes, seiner selbst und der wirklichen Wirklichkeit ermächtigt und endgültig eingesetzt wird12.
-
XI 558/60. ↩︎
-
Vgl. XIII 66, 69/70. ↩︎
-
XIII 268. ↩︎
-
Vgl. XIII 285/86, auch 350/51. ↩︎
-
Vgl. XI 565/66, 569. ↩︎
-
Stuttgart 1964. ↩︎
-
Das Böse – die Ohnmacht der Vernunft (Meisenheim 1966). ↩︎
-
Vgl. etwa: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: F. Hölderlin, Sämtl. Werke IV (Stuttgart 1962) 309–311, Erläuterungen 407; für Hegel: Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Philosophie (Philosophische Bibliothek, Band 62 a) (Hamburg 1962) 12–17, aber auch schon: Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in: Hegels theologische Jugendschriften, hrsg. v. H. Nohl (Tübingen 1907) bes. 243–260. ↩︎
-
Vgl. II 14. ↩︎
-
Hierzu das Werk von H. Rombach, Substanz – System – Struktur, 1 u. 2 (Freiburg 1965/66) im Ganzen, bez. Schellings bes. Bd. 2, 506, 37. ↩︎
-
Vgl. VI 28–50, bes. etwa 39. ↩︎
-
Vgl. hierzu XI 558–563, auch XIII 364. ↩︎