Unterscheidungen
Die Grundspannung des Menschlichen*
Die Frage, was der Mensch ist, scheint sich zu verlagern. Sie lebt in einem eigentümlichen Rest wieder auf. Sie lautet heute vor allem: Wann ist der Mensch – von wann an und wie lange? Menschliches Leben quantifiziert sich. Innerhalb seiner quantifizierbaren Ränder soll es eine Schutzinsel bilden, die dem Zugriff der Beliebigkeit menschlichen Verfügens und Vermögens entzogen ist. Aber ist der Streit um die Ränder nicht fatal? Gewiß braucht es Kriterien. Aber es ist kennzeichnend, daß es seine Schwierigkeit mit diesen Kriterien hat. Menschliches Leben hat Grenzen, und diese Grenzen, Anfang und Ende des Lebens, bestimmen es im Ganzen; will man diese Grenzen aber feststellend fixieren, so entgehen sie. Ein von den „Rändern“ her bestimmter Mensch entgeht sich selbst, entgeht der Menschheit. „Definition“ des Menschen tut not. Aber sie muß den Mut haben, „Definition aus der Mitte“ zu sein. Die Frage: Was ist der Mensch? ist nicht vorbei.
Aber wie sie angehen? Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte seiner Selbstdefinition. Und eines zeigt diese Geschichte zumindest: daß der Mensch mehr ist als jede seiner Definitionen, daß er von keiner seiner Unterscheidungen voll eingefangen und geborgen wird. Wie schon angedeutet, vermißt der Mensch heute sich selbst, verrechnet er sich mit den Wissenschaften, denen er Gegenstand zu werden vermag – als Lebendiges, als Psyche, als gesellschaftliches und geschichtliches Wesen. Aber jede Hinsicht, in die er sich erstreckt und in der er sich erklärt, läßt die Frage übrig: Bin ich das wirklich? Bin ich das ganz? Der Mensch ist jeder seiner Hinsichten auf sich selbst, jeder seiner Aussagen über sich selbst [18] je nochmals gegenüber und enthoben.1 Dies kann als die Würde, dies kann aber auch als die unendliche Endlichkeit des Menschen, als seine Misere und Aporie betrachtet werden – und Pascals vielzitiertes Wort, daß der Mensch den Menschen unendlich übersteige, weist zunächst in die letztgenannte Richtung.2 In seinem Humanismusbrief zieht Heidegger die Konsequenz, die mehr als eine bloße Konsequenz ist, indem er den Menschen versteht als das gerade durch seine Undefinierbarkeit Gekennzeichnete, als jenes, das sich darin nicht erschöpft, ein Seiendes zu sein. Humanismen, Menschenbilder, die von fraglosen Vorverständnissen ausgehen und sie explizieren, werden Heidegger fragwürdig.3 Und doch lebt in den großen geschichtlichen Gestalten menschlichen Selbstverständnisses gerade das, was diese Gestalten und Verständnisse sprengt.
Zweimal zwei gegenläufige Bestimmungen tauchen immer wieder auf. Einmal ist es der Gegensatz zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, zum anderen der Widerstreit zwischen Transzendenz und Immanenz.
Natürlich ist es sonderbar, den Menschen als animal rationale zu definieren, ihn, von der „seienden“ Allgemeinheit des Lebendigen herkommend, durch die „Zugabe“ der Vernunft zu bestimmen, die doch das über alles bloß Seiende Hinausreichende, die der Hinblick aufs Ganze und Unendliche ist. Aber entspricht es nicht andererseits gerade der Situation des Menschen, daß das „Eigentliche“ wie eine Zusatzbestimmung ihm anhaftet, daß er, der einerseits ganz Frage, ganz Hinsicht ohne Grenze, ganz Ausspannung zum Sein ist, eben ist in bestimmten unverfügbaren Bedingungen, ohne die das, was er ist, nicht ist? Wiederum war es Pascal, der diese Disproportion (und andere Disproportionen dazu) aufs schärfste im Menschen herausgestellt hat.4 Der Mensch, die Beiläufigkeit des Unbedingten.
Die Sache wird nicht einfacher, wenn man den Geist als die Ausgangsposition nimmt, von der her der Mensch sich in seine welthaften und leibhaften „Barrieren“ hineindefiniert. Geht es wirklich an, Materie nur als die „Entfremdung“ des Geistes zu verstehen? Und wenn man sie als den Ziel- und Wendepunkt der Selbstrealisierung [19] des Geistes begreift, so scheint derlei Interpretation wiederum weit weg von der elementaren Selbsterfahrung des Menschen: sagt diese Deutung nicht zu viel und zugleich zu wenig von der inneren Spannung, die der Mensch ist?
Eher noch schärfer kennzeichnet der Widerstreit von In-sich-Bleiben und Selbstüberschreitung die Situation des neuzeitlichen Humanismus. Wenn hier bald der Gott als das Wesen des Menschen erscheint und bald die Andersheit des Menschen Gott gegenüber, seine Differenz, sein Nur-Menschsein herausgestellt wird, so sind das indessen nicht zwei Hinsichten; im Grunde ist es eine und dieselbe. Zwei wahrlich verschiedene Zeugen können uns einen Hinweis darauf geben: Schiller und Feuerbach.
Schiller5 spricht von der Anlage zur Gottheit, die im Menschen steckt. Das Göttliche ist ihm die absolute Realität, will sagen die Verdichtung aller Möglichkeit zur Wirklichkeit, die unbedingte Konkretion, die alles einbegreifende und verwirklichende Gestalt, und es ist ihm zugleich die absolute Formalität, will sagen die Vertilgung alles bloß Endlichen, Zufälligen, alles dessen, was auch anders sein könnte, in die reine Stimmigkeit einer totalen Notwendigkeit: nur so, nicht anders! Göttlich wäre demnach also jenes Wesen, das schlechthin in sich steht, weil die Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit und die Spannung zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit vollkommen in ihm zum Ausgleich kommen. Der Mensch aber ist nur Anlage zu diesem Wesen, die Gottheit ist der Limes, auf den der Mensch in unendlicher Anstrengung und in unendlichem Fortschritt seiner Bildung hinorientiert ist; aber einzuholen vermag der Mensch dieses Wesen nicht. Dies ist für Schiller freilich nicht eine tragische Differenz, sein Blick heftet sich nicht an den tantalischen Charakter der Vergeblichkeit solchen Bemühens (wie etwa Camus6); vielmehr entdeckt er darin die Größe, die vitale Spannung, die alle Vorläufigkeiten und Vergeblichkeiten überwindende Motorik eines Je-Weiter, die den Menschen mit seinen endlich erreichten Gestalten nicht zufrieden sein läßt.
Wo – so muß zum Verständnis gefragt werden – liegt der Anhalt, den Menschen als das Wesen der je unabgeschlossenen Transzen- [20] denz zur Absolutheit göttlicher Immanenz hin zu bestimmen? Diesen Anhalt bietet die dem Menschen ständig sich aufdrängende zweifache Frage: Bin ich auch ganz da in dem, wie ich bin, habe ich mich ganz verwirklicht und eingeholt in meiner endlichen geschichtlichen Gestalt? Und umgekehrt: habe ich alle Gegebenheiten und Bestimmtheiten, in denen ich mich finde, eingeholt zu mir, habe ich alle Heteronomie in Autonomie, alle Determination in Freiheit verwandelt? Ohne diese Fragen – aber auch wenn diese Fragen mit einem platten Ja beantwortet würden – verfiele das Menschliche in bürgerlicher Selbstbescheidung, in müder Distanz zum Gang seiner Geschichte.
Bei Feuerbach taucht, wenn auch in anderer Figuration, Entsprechendes auf.7 Erkennen, Wollen, Lieben gelten ihm als von „göttlicher“ Art; denn sie schließen sich in sich selber, sie verlangen nicht mehr nach einer Mutation in andere Vollzüge und Daseinsweisen hinein. Diese Grundvollzüge des Menschlichen machen so sein göttliches, sein sich in sich selber genügendes Wesen, seine Absolutheit aus, die den Gott über ihm zur unausgewiesenen Projektion dessen werden lassen, was im eigenen Wesen eröffnet ist. Es ist freilich im eigenen Wesen für Feuerbach derart eröffnet, daß das Individuum sich gerade in diesen Vollzügen, die in sich stehenbleiben, überschreitet zum Mitmenschen, zur Gattung hin. Die eigentümliche Problematik in Feuerbachs Ansatz soll hier nicht weiter erörtert werden. Das Zugleich von Transzendenz und Immanenz als Wesen des Menschen ist jedenfalls auf doppelte Weise auch bei ihm gegeben: einmal eben, weil es das ureigene Wesen des Menschen ist, „göttlich“ zu sein, zum andern aber, weil er dieses göttliche Wesen nicht allein, sondern nur in der geschehenden Beziehung vollbringt.
Nun, die Geschichte scheint über derlei „Humanismen“ hinausgewachsen zu sein, nicht zuletzt durch einen, der sich zeitweise in dichter Nachbarschaft zu Feuerbach aufhielt, durch Marx. Aber wenn, zumal seit Marx, in vielfacher Gestalt immer wieder die Problematik der „Entfremdung“ das Selbstverständnis des Menschen prägt, so bekundet sich darin doch eine dynamische Verwandt- [21] schaft zu den ausgeführten Gedanken. Der Mensch – ob als Individuum, ob als Gesellschaft angesetzt – ist nicht oder noch nicht bei sich, bei seinem Bleibenkönnen in sich selbst angelangt. Es gibt einen Maßstab, von dem aus Entfremdung meßbar ist und auf den zu sie sich transzendieren muß, gleichviel ob er jemals eingeholt wird oder ob er nur als jeweils vorenthaltene Zukunft dynamisch am Wirken bleibt, wie es neueren Folgegestalten des Marxismus eher entspricht.8
Vielleicht deutet sich heute indessen eine scheinbare Zerspaltung der beiden Grundtendenzen von Immanenz und Transzendenz, von Wegsein und Beisichsein als Grundrhythmen menschlichen Daseins an. Einer Ideologisierung des „Je Weiter“, des menschlichen Wesens als des Wesens einer je machbaren und nie erreichten Zukunft tritt die Ermüdung der Flucht in die Innerlichkeit entgegen. Ohne daß dadurch Hegel oder Marx an sich selbst hinreichend gedeutet würden, hat die gängige Meinung, Marxismus sei ein Gegenschlag gegen den absoluten Gedanken bei Hegel, ihren Anlaß. Der Gedanke, der sich selbst als die alles einbegreifende Geschichte versteht, droht nichts an den faktischen Verhältnissen verändern zu können, und so emanzipiert sich gegen ihn die Tat. Heute tritt zunehmend eine gegenläufige Aporie zutage: Verzweiflung des Bewußtseins an der Macht der Tat, an der Effizienz geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit und Wirksamkeit. Das Bewußtsein wandert daher aus, oft genug in Bezirke, deren „Scheincharakter“, deren unaufholbare Differenz zur begegnenden Wirklichkeit resignativ in Kauf genommen wird.
Wie gesagt, ist die Zerreißung der Tendenzen nur eine scheinbare. Gesellschaftliche Transzendenz, hin zur Zukunft, ist eine radikale Immanenz des Menschen in seinen eigenen Möglichkeiten. Die immanente Auswanderung, als welche die neue Innerlichkeit erscheinen mag, ist als Auswanderung, als Vergessen des Ich, als Veränderung des Bewußtseins wiederum ebenfalls etwas wie der Versuch der Transzendenz, der Versuch des Wegkommens vom Ich, um es darin zu erreichen.
Es wäre schwierig, Prophet zu spielen, die Kraft der einen oder [22] anderen Tendenz und die Richtung, in welche sie sich weiterentwickeln, zu fixieren. Soviel aber zeigt sich: Gesellschaftlichkeit, die das Ich, die den einzelnen nur verplant in ihren Gang der Veränderung von Verhältnissen und Strukturen, aber auch Innerlichkeit, die eine Transzendenz im bloßen Bewußtsein jenseits der Wirklichkeit versucht, in welcher der Mensch lebt und sich bewährt, bleiben Fragment. Der Mensch ist die Spannung des „in sich“ und „über sich hinaus“, der zu bestehenden Endlichkeit und des unbedingten Anspruchs, der Personalität und der Gesellschaft.
Der Widerstreit zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit und der Widerstreit zwischen Transzendenz und Immanenz zeigen sich so als Perspektiven der einen und selben Grundspannung, die der Mensch ist und die sich dem Menschen selbst bald als die weitertreibende Aufgabe, bald als die faszinierende Größe, bald als die unaufhebbare Tragik seines Wesens darstellt.
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Vgl. hierzu Welte, Bernhard: Determination und Freiheit, Frankfurt a. M. 1969. ↩︎
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Pascal, Blaise: Pensées, ed. Brunschvicg, Frgm. 434. ↩︎
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Heidegger, Martin: Brief über den „Humanismus“, in: Wegmarken, Frankfurt a. M. 1967, 154–194. ↩︎
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Pascal, Blaise: Pensées, ed. Brunschvicg, Frgm. 72. ↩︎
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Schiller, Friedrich: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen, 11. Brief. ↩︎
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Vgl. Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Düsseldorf 1968. ↩︎
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Siehe z. B. Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums, Werke Bd. 6, 2. Aufl., hg. v. Wilhelm Bolin, Stuttgart – Bad Cannstatt 1960, 111, 188, und: Vorlesungen über das Wesen der Religion, Werke Bd. 8, 26f, 145, 354. ↩︎
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Vgl. etwa Gardavský, Vítězslav: Gott ist nicht ganz tot. Betrachtungen eines Marxisten über Bibel, Religion und Atheismus, 4. Aufl., München 1970. Siehe auch Horkheimer, Max: Was wir ‚Sinn' nennen, wird verschwinden, in: Der Spiegel 1/2 (1970), 80–84. ↩︎