Unterscheidungen

Die Grundstrukturen menschlichen Transzendierens*

Was sagt diese „Spannung“ von sich her über den Unterschied des Menschlichen? Um Auskunft darüber zu erhalten, wenden wir uns einem Grunddatum menschlichen Daseinsvollzuges zu: Der Mensch ist je über das ihm Nächste hinaus. Fragend, planend und gestaltend übergreift er den Augenblick. Dieses Transzendieren des je Unmittelbaren geschieht in einer dreifachen Struktur.

Zunächst in der Struktur der Sorge. Das „und dann?“ ist eine Grundbewegung seines Daseins. Ein merkwürdiger Zwiespalt prägt diese Bewegung. Einmal ist es ihm sicher, daß es weitergeht, hinaus über das, was jetzt ist. Er kann gar nicht anders, als den Verlauf der Zeit über den Augenblick ins Nachher weiterprojizieren, diese Linie der Erstreckung der Zeit in die Zukunft ist die Matrize seines Vorstellens. Andererseits hat der Mensch aber jetzt das, was nachher ist, nicht in der Hand. Es ist das nicht einfach Verfügbare, sondern Entzogene, Unselbstverständliche. Zukunft ist das Gewisseste und Ungewisseste zugleich. So radikal ist die Ungewißheit, daß es schließlich gewiß ist, daß einmal das „Nichtmehr“, der Abbruch der eigenen Existenz kommen wird. Alles Planen und Vorbereiten der Zukunft hat nur eines nicht in der Hand: die Zu- [23] kunft selbst. Die Aktivität des Jetzt ist Aktivität für das Hernach, doch ob das Hernach diese Aktivität in sich aufnimmt, bleibt fraglich. Zukunft ist Verlängerung dessen, was schon ist, in das, was noch nicht ist. Aber zur Gegenwart wird die Zukunft nur, indem sie von sich her, aus ihrem „Noch nicht“ her eintrifft, zukommt auf mich, der ich jetzt ohne Gewähr des Hernach bin. Dies ist die elementarste Weise des Transzendierens als Macht und Ohnmacht des Menschen.

In dieser Linie der Sorge entscheidet sich, als die Zukunft schlechthin, was es mit mir – und nicht nur mit mir, denn Sorge ist auch Sorge für mein Geschlecht, Sorge für die anderen – auf sich hat. Hat alles Sinn, oder vergeht alles ins Wesenlose? Mit dieser Frage allein ist phänomenologisch noch keineswegs ausgemacht, wie dem in seine Zukunft gespannten und in ihr doch aufs Vergehen zugehenden Dasein bergender Sinn gewährt sein könne. Wohl aber zeigt sich bereits: Sorge geht aus auf eine Zusage von Sinn, die eigenes Vermögen übersteigt; Zukunft hat es wesenhaft an sich, unselbstverständlich, nicht bloße Vollstreckung des eigenen Jetzt und seiner Möglichkeiten zu sein. Selbst dann, wenn einer sich mit sich und seinem Jetzt begnügte, geschähe darin die Setzung „absoluter“ Zukunft: Ich bin so, und es ist so, daß mein Ich und Jetzt meine über sich hinausgespannte Sorge zum Stehen, zur Identität mit mir und allem bringen. Ich will, daß es so ist, und setze darin von mir her, daß es von sich her, daß es „unbedingt“ so sei.

Die Sorgestruktur des Daseins, ihr transzendierender Ausgriff nach dem Sinn, ist heute weithin verschattet. Dies erscheint sonderbar, denn das ganze Dasein und die ganze Welt könnten mehr denn je als institutionalisierte Sorge verstanden werden. „Versicherung“ ist ein Grundzug der Zeit, die gemeinsame Anstrengung aller geht dahin, die Ungewißheit der Zukunft durch die eigene Planung und Leistung zu überrunden, alle Unsicherheitsfaktoren immer perfekter auszuschalten. Doch gerade durch solche „Überanstrengung“ schluckt die Sorge ihre Offenheit zu dem, was nicht sie vermag, sondern was ihr nur gewährt werden kann, in sich selbst hinein. Im Ringen mit der Grenze des Todes, die vielfältig domestiziert, [24] herausgeschoben und verpackt wird, werden die letzten Fragen, die der Tod an den Menschen stellt, übertönt. Man könnte etwa an den Bergsteiger denken, der im Absturz gerade nicht an sein eigenes Sterben, sondern nur daran denkt, wie er ihm entkommt.

Doch auch noch auf andere Weise mutiert die Sorge. Eine sich auf ihre Zukunft hin überanstrengende, alles in umgreifender Gemeinsamkeit organisierende Welt läßt im Menschen selbst Desinteresse an der Zukunft und bodenlose Isolation und Einsamkeit zurück. Er ist so auf das Später und das Miteinander „getrimmt“, daß „ewiges Leben“ ihn wenig interessiert. Der Umtrieb des auferlegten Handelns nimmt ihn so total in Beschlag, daß Sinn jetzt sein muß oder nicht ist. Die Spannweite der Sorge geht, in einer sich radikalisierenden Verzweiflung am Sinn, nur noch vom Jetzt zum Jetzt. Sorge pervertiert im Extremfall zum Verzicht auf den Sinn. Doch auch solcher Verzicht läßt sich nur von der Ausgangsposition der gezeichneten Sorgestruktur her verstehen.

Die zweite Struktur, in welcher der Mensch sich selbst in seinem Dasein transzendiert, ist die Struktur der Kommunikation. Der Mensch ist im Grunde je unterwegs von anderen her und zu anderen hin. Menschsein ist Mitsein. Das stimmt nicht nur kraft der biologischen Verwiesenheit des Individuums auf andere Individuen; diese steht ihrerseits im umfassenden Kontext der Kommunikation, der sich zumal als Sprache manifestiert. Die Worte, die ich sage, entstammen bereits einem Sich-Verständigen und Sich-Verstehen anderer, mein neuer Einsatz des Sprechens, mein eigenes Wort ist je nicht nur Erzeugung, sondern auch Verwandlung von schon Gesagtem und Eröffnung von solchem, was andere sagen können. Daß ich ich bin, kommt im Grunde erst an den anderen zum Vorschein. Denn die Unselbstverständlichkeit dessen, wie ich bin, die Überraschung meines eigenen Aufbruchs aus mir selber, kommt erst zu sich und zu mir, indem sie anderen sich gibt, indem sie in der Erwartung und Antwort anderer sich spiegelt.

Auch dann, wenn ich „allein“ bin, bin ich nicht schlechterdings einsam; denn was aus mir selbst und an mir selbst geschieht, prägt mich als den, der ich hernach, in der Begegnung, für andere sein [25] werde. Sprache ist nicht nur eine einzelne Aktionsart des Menschen. Er ist Sprache, er ist Sich-Wegsagen von sich selbst, seine Gestalt, seine Bewegung offenbaren ihn, muten ihn anderen zu.

Doch Kommunikation erschöpft sich nicht in der Sprache, die ich bin. Sprechen, als Anreden und Antworten, ist unselbstverständliche Tat meiner Freiheit. Daß ich von mir her etwas auf den anderen zu sage, ist letztlich nicht erzwingbar – und wäre es erzwungen, so wäre nicht ich es gewesen, der da geredet hat. Der andere, als derjenige, der sich gehört, ist wiederum „Geheimnis“ für mich, im Grunde das einzige, was ich nie und nimmer vermag. Denn wenn er sich mir zusagt, wenn er sich mir öffnet, so geschieht es nur von ihm her. Nur davon, daß wir uns einander öffnen, können wir leben. Daß wir aber uns einander öffnen, geschieht gerade nicht von sich selbst, sondern von uns selbst.

Noch ehe etwa Ebner, Rosenzweig und Buber1 diesen Grundbefund bedachten, hat Franz v. Baader über die fundamentale Bedeutung dessen, daß wir vom freien Wort des anderen leben, nachgedacht; „Eucharistie“ als freie Hingabe des Selbst, damit der andere leben kann, wird bei ihm zum Grundrhythmus des Menschseins.2

Kommunikation hat, bei aller Unerzwingbarkeit ihres Geschehens, eine im letzten unendliche Dynamik. Das Gespräch, das wir sind, ist nie am Ende. Jede einzelne Gesprächssituation setzt sich fort in anderen Situationen, das Verstehenwollen und das Sich-Mitteilenwollen drängen über jede Grenze hinaus.

Kommunikation will indessen nicht nur immer umfassender werden (in der Gleichzeitigkeit, aber auch in der Nachzeitigkeit, wofür alle „historischen“ Disziplinen ein beredtes Zeugnis ablegen), sie strebt ebenso nach immer dichterer Intensität. Verständnis möchte Einverständnis werden, die verschiedenen Worte suchen aus der Freiheit der vielen Partner, die sie sprechen, nach der Konsonanz in dem einen „Wort“, das ihnen alles – und auch ihre Verschiedenheit – gewährt. Man mag sich hier an Augustin erinnern, der in der Phänomenanalyse der Liebe einen dreifachen Schwerpunkt des unteilbar einen Vollzuges der Liebe entdeckt.3 Wer [26] liebt, ist nicht nur ganz von sich weg, bei dem, den er liebt, so daß nur du da bist; darin, daß „du“ da bist, bin zugleich ich, der Liebende selbst, ganz da, in meinem Wegsein von mir kommt mein Selbstsein erst heraus. Doch solche das Ich erst entbergende Schwerpunktverlagerung aufs Du läßt die „Liebe selbst“ sehen: Wer liebt, der liebt die Liebe selbst. Letztlich ist sie das Wort, das mich und dich und so gerade unsere Freiheit zueinander, zu sich und zu ihr uns sagt. Wenn Sinn zum menschlichen Dasein gehört, dann gerade hier: „Sinn“ meint letztlich eine Zusage, die nicht additiv zu einzelnen Freiheiten und einzelnen Personen etwas hinzufügt, sondern „du“ und „ich“ und „wir“ in der Jeweiligkeit und Einheit ihrer Freiheit und somit ihrer Kommunikation gewährt.

Die entscheidende Transzendenz des Menschen ist so Transzendenz in die Mitte, ins Zwischen, dessen Mittelpunkt nicht im angebbaren Irgendwo des Einzelnen und Endlichen liegt. Nur in der Balance zu solcher Transzendenz in die Mitte hat auch das expansive Wachstum der Kommunikation über ihre je endlichen Ränder hinaus seinen Sinn. Wo aber die einende, öffnende und befreiende Zusage des Sinns verschüttet wird oder zerbricht, da gewinnt das quantitative Streben nach mehr Kommunikation den Charakter der Vergeblichkeit, da wächst nur die Solidarität der Isolation. Daß ein aufs Feststellen, Herstellen und Sicherstellen orientiertes Denken, daß eine auf ihre Informationswerte verkürzte Sprache, daß eine bloß reduktive Untersuchung der Bedingungen des Menschseins den Elan und die Zuversicht, ja das Gehör für ein Wort verschütten, das sich als Zusage und nicht nur als Aussage versteht, liegt auf der Hand. Von hierher ist heute die Kommunikationsstruktur gerade im Wuchern der Kommunikation gefährdet, sosehr dieses Wuchern selbst Zeugnis dafür ist, daß es in der Wurzel um anderes geht als um jenes, was dem Feststellen, Herstellen und Sicherstellen gelingt.

Wir waren im Geschick des neuzeitlichen Humanismus auf zwei gegenläufige Strömungen aufmerksam geworden: auf eine Verzweiflung an der Ohnmacht des Gedankens, die zur Absolutsetzung der Tat, auf eine Verzweiflung an der Ohnmacht der Tat, die zur Auswanderung nach innen treibt. Ist letztlich nicht die Grenze der [27] verabsolutierten gesellschaftlichen Aktion und die Grenze der isolierten Innerlichkeit dieselbe: die Ohnmacht zur Kommunikation?

Die dritte Struktur menschlicher Transzendenz über das je Nächste hinaus läßt sich bezeichnen als Struktur der Intensität. Intensität meint hier die Intensität dessen, was dem Menschen aufgeht und ihn angeht, so daß er über die Vorläufigkeiten und Endlichkeiten des unmittelbar ihn Beschäftigenden hinausgehoben wird. Gerade dies ist kennzeichnend für den Menschen, daß ihn etwa eine Idee, ein Auftrag, ein Ruf so in Anspruch nehmen können, daß er daran alles andere relativiert. Der Mensch steht in der Frage: Worauf kommt es an? Und wenn er erkennt: auf die Gerechtigkeit, auf den Frieden, auf die Wahrheit, auf die Gestaltung eines Werkes, auf die Inkarnation eines Gedankens im Stoff menschlicher Wirklichkeit, dann werden Bedürfnisse und Möglichkeiten, Sorgen und Freundschaften zweitrangig. Im Grenzfall, der sich in seinen Abschattungen deutlich genug ankündigt, ist das, was den Menschen mit solcher Intensität in Anspruch nimmt, im Vollzugssinn des Wortes genommen: unbedingt. Alles wird an dem einen gemessen, es selbst hat keinen Maßstab mehr außer sich. Mag sein, was immer ist, mag ich dabei meine Karriere und sogar mein Leben verlieren, wenn nur dieses eine zum Zuge kommt, wenn nur dieses eine sich bewährt!

Unbedingtheit als Woraufhin menschlichen Existierens wird nirgendwo deutlicher als hier. Im Grunde umfaßt die Struktur solcher Intensität auch die Sorge- und Kommunikationsstruktur. Wenn das aufscheint, was dem Dasein unbedingten Sinn und unbedingtes Richtmaß gibt, dann ist alle Sorge gestillt und überholt; Sorge ist ihrerseits nicht mehr Sorge nur ums Ich, sondern Sorge um das Gelingen des unbedingten Sinns – in dem freilich auch „ich“ erst zu mir eingeholt bin. Auch die Kommunikation findet hier ihr unbedingtes Maß. Es kann notwendig werden, auf gutes Sich-Verstehen mit geliebten Menschen zu verzichten, wenn das eine aufbricht, auf das alles ankommt. Andererseits stiftet freilich gerade der Aufbruch unbedingter Intensität Kommunikation. Sie ist der [28] Zuspruch, der mich trägt und der darin den Anspruch enthüllt, von mir verkündet, von mir so ins Werk gesetzt zu werden, daß er unter allen und für alle gilt, daß er die Zustimmung aller erfährt. Kommunikation wird zur Kommunikation im unbedingten Sinn.


  1. Vgl. hierzu die Untersuchung von Casper, Bernhard: Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers, Freiburg i. Br. 1963, bes. 69–71. ↩︎

  2. Vgl. Baader, Franz von: Alle Menschen sind im seelischen, guten oder schlimmen Sinn unter sich Anthropophagen, in Franz von Baaders sämtliche Werke, Bd. IV, Leipzig 1853, 221–242; auch Hemmerle, Klaus: Franz von Baaders Philosophischer Gedanke der Schöpfung, Freiburg i. Br. u. a. 1963, bes. 69–71. ↩︎

  3. De Trinitate IX, 2: „Ecce ego qui hoc quaero cum aliquid amo tria sunt, ego et quod amo et ipse amor. Non enim amo amorem nisi amantem amem, nam non est amor ubi nihil amatur.“ Siehe auch VIII, 8: „dilectionem autem necesse est diligat qui diligit fratrem“ oder IX, 2: „non enim quisquis se amat amor est nisi cum amatur ipse amor." ↩︎