Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“

Die Konstellation

Wenn die Frömmigkeit bleibt in diesen Umbrüchen und Zusammenbrüchen, dann bleibt die Konstellation. Wohin immer sich die Fragen Reinhold Schneiders bohren, wohin immer er aus einem in der Mitte geborgenen Verhältnis zu Gott und den Dingen gleitet, das große Spiel verliert seine Spieler nicht, verliert nicht die Dimensionen, die sich zwischen ihnen und ihren unaustauschbaren Rollen entfalten. Der verborgene Gott ist nicht weniger Gott; wenn sein Vatername sich verhüllt und sein Antlitz sich entzieht, so ist er in solcher rätselhaften Ferne doch groß, [113] doch geheimnisvoll. Das Lebenkönnen ohne Gott, das sich als säkulare Möglichkeit abzeichnet, da der Mensch herausstrebt aus seiner Unsterblichkeit, stellt dem Dichter nur um so drängender die Frage nach dem Wo und Wie dieses Gottes. Verschütten sich die Zugänge zu ihm, so bleibt doch ihm der Zugang offen zu uns – wird er kommen, wird er sprechen? „Schmerz um die Kreatur, den verborgenen Gott“ (277).

Und dies ist der zweite Pol in dieser Konstellation: die Kreatur. Hineingehalten in die Dialektik von Zerstörung, die den Bestand bedingt und verzehrt, kann sie nicht sich absolut setzen, nicht zum Gott und Götzen werden. Dies ist der Schmerz um sie, daß sich Gottes Bild in ihr verfinstert: „Die Natur, auch die unterm Sündenfall, müßte doch vom Bilde Gottes beantwortet werden“ (222). Und doch zergeht diese Natur auch nicht ins Wesenlose, ins Nicht, sie schwebt über dem Abgrund, sie ist durch und durch: Kreatur.

Ein dritter Pol in dieser Konstellation: das, was war. Vergangenheit ist Vergangenheit, aber sie ist das Gegenteil von Nichts. In allem Zögern gegenüber jeglicher Unsterblichkeit, das Reinhold Schneider überfällt, lebt er die Unauslöschlichkeit der Geschichte. Nicht nur ihre Spuren sind da, sondern sie selber. Ihre Gestalten stehen in einer Lebendigkeit und Wirkmächtigkeit vor ihm, die es ihm anstrengend und faszinierend macht, mit solcher Gegenwart des Gewesenen zu leben, die sich fortzeugt ins Kommende. Was war, ist zurückgenommen in sein Geheimnis und steht dort. Und dann das Ich. Es nimmt den Ton weg von sich, indem es für sich nur die Ruhe und nicht das Leben wünscht und in seinem Beten eintritt nicht für sich, sondern für die anderen. Es wird sozusagen zum Punkt mit der Ausdehnung Null – wir gebrauchten dieses Bild bereits einmal –, der doch das Ganze, die Kugel, trägt. Das Ich ist gerade nicht das Alles, sondern allem gegenüber, so aber mit allem verbunden, zu allem im Verhältnis – und gerade dadurch wie in keiner anderen denkbaren Position: es selbst.

Die Konstellation bleibt, indem die Pole bleiben; ihr je Eigenes spitzt sich zu in der Reduktion aufs Wesentliche, oder vielleicht ist es besser ausgedrückt im Negativen: im Fortfall alles dessen, was fortfallen kann, im Hineinsinken in den eigenen Grenzwert. [114] Der unbeweisbare, rätselhafte, sich und die Welt und das, was in ihr vorgeht, nicht mehr klärende Gott – die auf ihren sie vernichtenden und zugleich haltenden Widerspruch gegen sich selbst zurückgenommene Kreatur – die im Geheimnis des Gewesenen verwahrte und die Zukunft im Geschehen verwahrende und so doch unverfügbar offene Geschichte – der in seine Endlichkeit, ja Sterblichkeit, in seine Ohnmacht und Unsicherheit, in die Überforderung seiner Verantwortung fürs Ganze zurückgebeugte Mensch: Grenzfälle des „gerade noch“, über das die hier gesetzten Worte bereits viel zuviel sagen. Eigentlich dürfte man nichts anderes nennen als nur die Namen: Gott, Kreatur, Geschichte, Mensch. Eigentlich dürfte man nur das Nicht gegenüber allen Gewohnheiten und Erwartungen stehenlassen als die jeweilige Eigenschaft; eigentlich dürfte es nur ein Prädikat geben: sein, noch sein, nur noch, gerade noch sein. Die Gestaltenfülle, der Reichtum der Perspektiven, die Vielfalt der Verflechtungen im „Winter in Wien“ sind wie der Vorhang, vor diesem „nicht mehr“ und „gerade noch“ – oder auch das Lied, das dieses „nicht mehr“ und „gerade noch“ von sich selber singt. Reinhold Schneider leiht diesem Lied die Stimme. „Warum dann noch schreiben? Ich unterhalte mich, solange ich dasein muß, durch das Medium der Welt in ihrer Zeitgestalt, auf den Straßen Wiens, mit mir selbst, in einer gewissen Freude an zerplatzten Seifenblasen, die über einem Essener Spielzeugladen ein nickendes Bärchen in die Luft blies, im Schmerz um die Kreatur, den verborgenen Gott“ (277). Hier sind die Pole der Konstellation genannt: das Ich, das dasein muß, das Medium der Welt in ihrer Zeitgestalt, die schmerzende Kreatur, der verborgene Gott.

Die Reduktion dieser Pole auf ihrem Grenzwert, auf ihr „gerade noch“ hat eine doppelte Dynamik. Zum einen eben das Hinsinken eines jeden dieser Pole in jene Nähe zum Nicht, die paradoxerweise dasselbe über jeden der Pole sagen läßt und zugleich ihn wie nie zuvor in sein unverwechselbar Eigenes hineinhebt, ihm schärfste Kontur gibt. Erinnern wir uns daran, daß für Reinhold Schneider die Gestalten des Widerspruchs der Natur den Widerspruch der Geschichte, ihre Gesetzmäßigkeit erhellen. Natur und Geschichte rücken zusammen. Ist das Ich im Widerspruch der Tendenzen nach Ruhe und nach Leben in einer [115] anderen Verfassung? Ist der Gott, der alles umfängt und gewährt, wenn anders er Gott ist, und der sich zugleich im All und der Geschichte entzieht und verweigert, nicht nochmals in derselben Situation?

Zum andern – dies ist die zweite Seite desselben Vorgangs – verschmelzen Gott, Mensch, Natur, Geschichte gerade nicht in ein Ein und Alles, rücken sie auseinander in die füreinander schier unsichtbar weit entlegenen Ecken des universalen Spielfeldes. Die Reduktion der Spieler auf ihr „gerade noch“, auf ihr pures Sein, drängt sie auseinander, in jene ungeheuerliche Diastase, die das ganze Spiel, das Spiel des Ganzen, in Frage stellt. Es ist nicht wie bei Martin Heideggers Geviert, daß sich Erde und Himmel, Göttliche und Sterbliche ins Geringe des Dinges versammeln.1 Solcher Gedanke wäre zwar nicht abzuweisen und auszuschließen von dem, was im „Winter in Wien“ zum Ding, zur Sache seiner Welt gerinnt. Aber die Grundtendenz ist gerade die Zerdehnung der Konstellation, das Hinausgleiten, ja Hinausstürzen der Pole aus dem Versöhnenden und Versammelnden in die bedrohliche Fremde. In sich selber, in ihren Grenzwert fallend, fallen sie in die Entfernung voneinander. Und nochmals: auch in dieser Ferne, ja in ihr verschärft, bleibt die Konstellation. Die Freude an den „Seifenblasen“ wächst in der Schale des Schmerzes. Der Schmerz aber ist Zeichen des gefühlten Zusammenhangs, der bleibenden Konstellation ebenso wie ihrer tragischen Zerdehnung, der wachsenden Fremde der Pole zueinander in ihrem Zusammenhang.


  1. Vgl. Heidegger, Martin: Das Ding, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 163–186. ↩︎