Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Die Konstitution des Gottesbegriffs
Die Elemente des Gottesbegriffes, welche die Interpretation des Endes negativer und des Einsatzes und der Durchführung positiver Philosophie aus Schellings Texten zutage förderten, ließen sich leicht zusammenreihen. Statt dessen wollen wir, die vertrauten und ausgewiesenen Einzelheiten als solche übergehend, (a) die Ausgangssituation des Schellingschen Gottesbegriffes skizzieren und (b) ihre spekulative Weiterführung bezeichnen.
a) Die Ausgangssituation
Die Ausgangssituation des Gottesbegriffs in Schellings Spätphilosophie ist zu markieren durch den Hinweis einmal auf Kants Trennung zwischen dem notwendig Existierenden und dem vollkommensten Wesen 1 und zum andern auf die Weiterführung des Kantschen Begriffs der omnitudo realitatis zum Begriff des Subjekt-Objekts2. Es geht uns hier nicht darum, ob Schelling Kant gemäß interpretiere, sondern darum, wie er ihn rezipiere, wie sein Gedanke am Kantischen Motiv seinen Ansatzpunkt finde.
Für Kant entsteht der Begriff Gottes aus der Verknüpfung des Gedankens eines notwendig Existierenden mit dem des allerrealsten Wesens3, welche Verknüpfung sich vor der theoretischen Vernunft nicht als notwendig erweisen läßt. „Die ganze Aufgabe des transzendentalen Ideals kommt darauf an: entweder zu der absoluten Notwendigkeit einen Begriff, oder zu dem Begriffe von irgendeinem Dinge die absolute Notwendigkeit desselben zu finden.“4 Beides übersteigt die Möglichkeiten theoretischer Erkenntnis. Schelling hingegen glaubt, in seiner positiven Philosophie den Ausgang unmittelbar von notwendiger Existenz als einem in sich Gewissen auf – zum Subjekt-Objekt weitergeführten – den Begriff des ens realissimum finden und in der Vermittlung dieses Begriffes mit dem notwendig Existierenden Gott erweisen zu können5.
Hier interessiert uns nicht mehr die Struktur dieses Beweises, sondern der Begriff Gottes, der den zu verknüpfenden Elementen [316] seines Ganges zu Grunde liegt. Schelling sieht in Gott also das schlechterdings Allgemeine, die Bedingung aller Dinglichkeit, die Vereinbarkeit, besser: Vereinigung aller möglichen Prädikate, den Inbegriff somit aller Realität, ihre ursprüngliche Systematik, das universale und totale Was schlechthin, ohne daß dieses als solches, als allgemein und essentiell, schon Gott wäre. Denn Gott selbst ist „absolutes Einzelwesen“6 das an sich selbst nichts von einem Was hat, sondern „reine Wirklichkeit ist, Wirklichkeit, in der nichts von“7 das aber gleichwohl alle Potenz, alles Was, eben: die Potenz ist omnitudo realitatis ist, d. h. sie trägt, sie, die an sich gerade nicht existiert, als Grund und „Prototyp aller Existenz“8 selbst ins Sein hebt. Gott ist also gedacht als die Einheit von inhaltlos abstrakter Existenz schlechthin und universalem Was, an dem diese selbst erst ihr Etwas gewinnt, in Wahrheit sie selbst ist9, als vorgängige Existenz schlechthin in ihrem Urverhältnis zum – freilich je sekundären – Wesen, und das heißt zum Denken.
Woher rührt diese eigentümliche Zweiheit im Gottesbegriff? Der späte Schelling greift deshalb auf Kant zurück, weil ihm die Potentialität des bloßen Denkens und somit das Ungenügen transzendentaler Ableitung bewußt wird, weil ihm die Ungesichertheit der wirklichen Wirklichkeit und zugleich der Vernunft selbst im Ausgang des Denkens von sich selbst aufbricht. Dieser Ausgang des Denkens von sich selbst, die Vollendung des Denkens aus sich selbst nach vorne, führt zu einer es abschließenden Einheit, zum Sein Gottes im Begriff, aber dieses Sein Gottes im Begriff ist eben nicht er selbst, er als der das wirkliche Sein und das Denken ins Denken wirklichen Seins Gewährende. Und so muß dem Vorblick des Denkens aufs universale Wesen, auf das, was Gott ist, wenn er ist, der Rückblick, der Rückstoß der Vernunft aufs unvordenklich sich in allem Denken bezeugende, es in Gang bringende Daß entsprechen. Dieses ist Gott, das heißt aber: es ist das allem Was schlechthin Vorgängige und doch das alles Was als sein Was, als das, was es selbst ist, Tragende.
Die Selbstreflexion des Denkens verbindet so letztlich wieder die beiden in der Kritik Kants auseinandergeratenen „Enden“ des [317] transzendental angesetzten Denkens: den Rückverweis des Seienden und eines jeden Denkens von Seiendem auf notwendige Existenz und den Vorverweis des Denkens auf den Inbegriff aller seiner Denkbarkeit und somit alles dessen, was sein kann.
Kant hatte das Erkenntnisvermögen auf das hin kritisch untersucht, was nur mehr es selbst zur Erkenntnis beisteuert, und so brach die Sicherung der Erkenntnis außerhalb des Bereiches hinweg, den die Erfahrung bestätigt, d. h. in dem das Erkenntnisvermögen ihm Entgegenkommendes, sinnlich Wahrnehmbares also greift. Diese Kritik legte die ungesicherten Enden der Erstreckung der Vernunft frei: den Vorgriff der Vernunft auf alles, was sein kann, auf die in ihm geborgene, aus ihm vermochte Wesentlichkeit von allem, und den Rückgriff der Vernunft auf das in ihrem Denken gerade nicht mehr Vermochte, ihr zu Vernehmende, auf Existenz schlechthin.
Die Radikalisierung und Verwandlung des Kantischen Ansatzes im transzendentalen Idealismus des von Fichte angestoßenen jungen Schelling enthüllt einerseits den Entstand der gesamten Erkenntnis aus der Vernunft: Sie „setzt“ auch das Material, in dem sich ihr Wesensentwurf realisiert, wäre es nicht aus ihr, so wäre es auch nicht als erkannt in ihr; sie vollendet anderseits den Organismus der Einheit aller erkennbaren Wasgehalte in den Begriff des Subjekt-Objekts, der sich selbst gehörenden alleinigen Geistigkeit, die alle anderen möglichen ontologischen Stufungen als zu sich vorläufig, auf sich hindrängend mitumfängt.
In der Universalität und Totalität dieses Setzens allen Seins entgeht dem Denken indessen – nicht notwendig qualitativ, aber thematisch – seine eigene Unbegründbarkeit aus sich selbst, sein bloßer Zeugnischarakter, seine Verwiesenheit darauf, daß Sein schlechthin ihm zuvorkommen muß, um sich von ihm setzen zu lassen. Das führt den späten Schelling auf Kant zurück, nicht weil er den entdeckten universalen Anspruch des Denken wieder aufgäbe, sondern weil er ihn tiefer, als Zeugenschaft, als mediale Ursprünglichkeit, entdeckt, die in der doppelten Selbsttranszendenz aufs absolute Wesen zu und auf die absolute Existenz zurück nicht mehr nur scheitert, sondern sich gerade vollendet zum Begriff des Gottes, der diese absolute Existenz ist, indem er ihr schlechthin Anderes, das absolute Wesen ist.
[318] Was läßt diesen seinen Gedanken indessen mehr sein als eine bloße Selbstprojektion der Vernunft? Antwort: das Wissen um die Ergriffenheit und Betroffenheit des Denkens vom Anruf absoluter Wirklichkeit, von dem alles antreffbare und empirische Seiende übersteigenden „wahrhaften Wirklichen“, ohne das es auch Frage und Zweifel des Denkens nicht gäbe10.
Diese den Gedanken des späten Schelling gegen seine Herkunft aus Kants Kritik sichernde Erfahrung des Denkens von seiner eigenen Zeugenschaft des Seins treibt ihn indessen spekulativ über sich hinaus.
b) Die spekulative Weiterführung
Gott als actus purus und, auf zu diesem zu-fällige Weise, als absolutes Was 11: solcher Gottesbegriff ist für Schelling noch nicht der endgültige. Er führt ihn weiter zum Begriff des „Herrn des Seins“, will sagen: der „natura necessaria“ als der absoluten Freiheit12. In ihr werden die beiden Elemente des absoluten Daß und des absoluten Was eins, indem sie miteinander vermittelt werden. Gottes reine Anfänglichkeit ist nicht starre Vorhandenheit des bloßen Daß: diese ist ihm schon je gelichtet durch den Ein- und Zufall der Möglichkeit seines Anderen, d. h. dessen, was er ist, als dessen, was sein kann.
Nur indem Gott sowohl dem absoluten Sein wie dem absoluten Wesen vorausgedacht ist, ist er dem Denken wahrhaft vorausgedacht, welches ja seinerseits entwerfend sich, d. h. das universale Was als seinen Inhalt, und bezeugend den absoluten Actus als seine Voraussetzung umfängt. Zugleich ist aber auch so nur das Denken in seine eigene Einheit hineingedacht, kommen ihm sein vermochter Inhalt und seine bezeugte Voraussetzung über ihren Gegensatz der nur zufällig-notwendigen Verwiesenheit aufeinander hinaus, indem derselbe Gott notwendig beides ist, das „notwendig notwendig-existierende Wesen“13, das so gerade von seinen beiden einseitigen Notwendigkeiten, der Existenz und des Denkens, frei ist.
[319] Gott ist beides, absolutes Daß und absolutes Wesen, heißt zugleich also: er ist in Distanz zu beidem. Und darin eben trägt das Denken seine mediale Ursprünglichkeit durch: es ist in seiner immanenten Differenz der Begriff des einen Gottes und so gerade eins mit ihm als in der Differenz der Nachträglichkeit zu ihm, an der er sich als Gott, als der Herr erweist.
So laufen die Linien der spekulativen Weiterführung des Ansatzes zum Schellingschen Gottesbegriff auf den göttlichen Gott hin, auf den Gott, der aus eigener Initiative aufgeht und handelt und so gerade, aus seiner reinen Vorgängigkeit zum Denken, dieses zu sich selbst bringt und ermächtigt, auf den Gott, der seinen Namen sagt: „Ich werde sein, der ich sein werde.“14
Daß Gottes Freiheit, aufs Denken, d. h. auf die im Denken ihm vorgestellten Möglichkeiten seiner selbst bezogen, ihn gleichwohl gerade nicht über sich hinauskommen läßt, daß Gott aus sich selbst „allein“ bleibt, auch wenn er sein Anderes setzt, daß dieses Andere sich nur durch seine Selbsterhebung in die Möglichkeit freier Beziehung vermittelt, hat uns bereits einläßlich beschäftigt. Dieses Zurückbleiben des Gedankens hinter seinem Maß beruht auf dem letztlich „ästhetischen“ Charakter des Denkens, das sein Gedachtes, wenn auch gerade als das ihm entzogen Andere, „ins Werk“ setzt und so „zustande“ bringt. Das Denken kehrt sein Antlitz so zuletzt nicht mehr sich entwandt Gott zu, sondern versteht sich selbst als das allem zugekehrte Antlitz Gottes, kommt von ihm her15, Ist sein „Götterbild“.
Doch woher kann unser Mitdenken wagen, diesen Gedanken an dem, was er meint, zu messen, woher weiß es selbst um den göttlichen Gott?
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Vgl. bes. XIII 167, XI 282/87. ↩︎
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Vgl. bes. XI 287/90. ↩︎
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Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe B 615, Ausgabe A 587. ↩︎
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A. a. O. B 640, A 613. ↩︎
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Vgl. XIII 167/69. ↩︎
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XIII 174, XI 586. ↩︎
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XI 585. ↩︎
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XIV 355. ↩︎
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Vgl. XI 587. ↩︎
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Vgl. XIII 242. ↩︎
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Vgl. bes. XI 586–589. ↩︎
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Vgl. bes. XIII 262/290 u. XIV 337/56. ↩︎
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XIII 169. ↩︎
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S. Ex 3, 14; XIII 270, XI 171. ↩︎
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Vgl. in etwa: die erste Potenz als das verzehrende göttliche Antlitz XIII 289/90. ↩︎