Die Bedeutung der Kantschen Kritik der Gottesbeweise

Die leitenden Motive des Kantschen Gedankens im geschichtlichen Horizont*

Die Frage, die sich uns aus dem umrissenen methodischen Programm her zuerst stellt, lautet: Welches sind die leitenden Motive im Gedanken Kants, die über ihn selbst in seine bereits skizzierte Nachgeschichte hinein wirksam werden? Formelhaft verkürzt sind deren drei zu nennen: Zunächst die Einsicht in die Selbstursprünglichkeit des Erkenntnisvermögens, sodann das kritische Gewahren der Begrenzung des Erkenntnisvermögens auf den Bereich möglicher Erfahrung, schließlich der eigentümliche Begriff Gottes, den Kant entwickelt und der Gott auf den Typus wissenschaftlicher Erkenntnis einerseits bezieht, ihn dieser andererseits gerade entzieht.

  1. Zuerst nannten wir Kants Zukehr zur Spontaneität des Erkenntnisvermögens. Gewiß entspringt die Linie, die im erkennenden Geist nicht nur einen passiven Behälter von außen kommender Wahrheit, sondern ihr aktives constituens erblickt, in der aristotelischen Lehre vom nous poietikos. Der Geist setzt die Wahrheit, registriert sie nicht nur: diese Einsicht lebt durch die [98] Philosophiegeschichte des Abendlandes hindurch. Die große Philosophie des Mittelalters bezieht sie primär und entscheidend auf Gottes absolute Geistigkeit. Descartes markiert sodann den Umschlag zum neuzeitlichen Rationalismus: Gott, das unendlich geistige Wesen, bleibt zwar unverzichtbarer Garant für alle Wahrheit, wesentlich aber ist Wahrheit Gewißheit, als Gewißheit aber verankert in der Selbstgewißheit, im Sich-Wissen des endlichen Subjekts.

    Aus dieser, sich in ihrer Durchführung mannigfaltig variierenden Grundfigur des Denkens wächst Kants Gedanke empor. Das endliche Subjekt, seine Struktur als transzendentales Ego ist ihm nicht mehr nur die Stätte der Gewißheit, welche die Erkenntnis als solche sichert, vielmehr wird die Struktur der Erkenntnis selbst genetisch aus der Erkenntniskraft des transzendentalen Ego heraus abgeleitet, menschliche Geistigkeit als solche wird zum Ursprung der Erkenntnis. Das ist der entscheidende Schritt, der den deutschen Idealismus ermöglicht. Fichte zieht die radikalen Konsequenzen aus Kants Ansatz und verändert ihn somit: Das transzendentale Ego wird nicht nur die eine Quelle der Erkenntnis, die der anderen, des ihr in der Erfahrung Gegebenen und zur Erfahrung Gefaßten, noch bedarf; vielmehr leitet er auch dieses Gegebene aus der Setzung des Ich ab, dem es nur als von ihm gesetzt ja offen, also gegeben erscheinen kann. Die Naturphilosophie des jungen Schelling hebt alsdann das transzendentale Ego als Ursprungsort der Erkenntnis dahinein auf, daß dieses Ego sich selbst nur als Zusichkommen von Subjektivität überhaupt, als Moment der Geschichte absoluter Subjektivität versteht, Moment, das dieser absoluten Subjektivität nicht partnerisch gegenübersteht, sondern einbegriffen ist in den Prozeß ihrer Selbstexplikation. Die Vollgestalt solchen Denkens im reifen System Hegels bereitet sich also vor. Dort erkennt der Geist den Geist, und das heißt: in aller Erkenntnis, die sich im Menschen begibt, verhält sich letztlich der absolute Geist zu sich selbst.

  2. Es ist nun erstaunlich zu sehen, wie gerade der Gedanke, welcher den entscheidenden Sprung des Geistes zu seinem absoluten Selbstverhältnis und somit zu seiner absoluten Ursprünglichkeit eröffnet, der Gedanke Kants, zugleich auf der gegenläufigen Kur- [99] ve der Entwicklung liegt. Indem Kant aufgeht, daß Erkenntnis nur wird, indem sie das, was sie formell zur Erkenntnis macht, vom erkennenden Subjekt als solchem erhält, geht ihm zugleich Jas andere auf: Erkenntnis ist gerade dadurch begrenzt, ist nur Erkenntnis, soweit die Struktur des erkennenden Subjekts trägt und reicht, sie ist nur Sich-Vollbringen endlicher Subjektivität. Was den absoluten Optimismus des Geistes zu sich selbst als zur einzigen Quelle aller Erkenntnis eröffnet, eröffnet auch die kritische Distanz des Geistes zu sich selbst, den Pessimismus der Erkenntnis, die, aufs erkennende Subjekt gegründet, der Unbegründbarkeit dieses Subjekts durch sich selbst verhaftet bleibt und dem Zweifel der Vernunft an sich selbst den Ansatz bietet.

  3. Diese Kreuzung gegenläufiger Linien im einen Gedanken Kants, des Weges der Vernunft zum absoluten Selbstvertrauen und ihres Weges zur äußersten Fraglichkeit für sich selbst, läßt vermuten, daß hier auch die Linien des denkenden Verstehens Gottes auf merkwürdige Weise sich schneiden. Wo das Subjekt auf sich selbst als auf das Setzende seiner Erkenntnis reflektiert, da wird ihm Gott selbst nur mehr in seiner funktionalen Bedeutung für das Erkennen begegnen, welches das menschliche Subjekt leistet. Gott als Garant der Wahrheit des Erkannten wird bei Kant nicht mehr wie bei Descartes der Garant seiner inneren Einheit, er wird die Denkfigur, in welche das Erkannte des Subjektes formal zurückverweist, ohne selbst in seiner Wirklichkeit mehr theoretisch garantiert zu sein, regulative Idee der Vernunft. Als solche nimmt er, wenn er als wirklich gedacht wird, die Gestalt der Gegenständlichkeit an, d. h. dessen, von dem gedacht wird, was es ist, und hinzugedacht wird, daß es ist. Das Gottesbild Kants ist das Bild des absoluten Seienden, in welchem das unendliche Wesen – Inbegriff der Washeit aller Gegenstände – verbunden ist mit dem zusätzlichen Gedanken einer ihm zukommenden notwendigen Existenz.

    Es fällt hier auf, in welch radikalem Sinn der Gott Kants, Pascalisch gesprochen, der Gott der Philosophen ist. Und zwei Enden einer Linie fallen zugleich auf, in deren Mitte Kants Gedanken steht: Sie führt von dem Gott des Descartes, welcher der Garant der menschlichen Erkenntnis war, über die Kantische Re- [100] flexion des Erkenntnisvermögens auf seinen Ursprung im menschlichen Subjekt und zugleich auf dessen Begrenzung hin zu der – angsthaft oder befreiend verstandenen – Vermutung, dieser funktionale, in die Strukturen menschlicher Erkenntnis eingefügte Gott sei an sich selbst die bloße Setzung, die bloße Projektion menschlicher Subjektivität. Es ist zur Genüge bekannt, daß die Absicht Kants nicht auf solches hinauslief, daß er vielmehr die Unbeweisbarkeit, aber auch Unwiderlegbarkeit Gottes durch die theoretische Vernunft statuierend, Gott einem anderen Verhältnis als dem der theoretischen Erkenntnis freikämpfen wollte.

    Mehr als seine positive Bemühung um den praktischen Zugang zu Gott entspricht dem jedoch ein anderer, in sich gerade widersprüchlicher Zug seines Gedankens. Indem er dartut, wie eine an der Gegenständlichkeit orientierte Erkenntnis diesen Gott theoretisch gerade nicht erreicht, tut er unbewußt dar, wie nicht nur diese Erkenntnis an diesem Gott, sondern auch dieser Gott an einer so verstandenen Erkenntnis scheitert. Und so wird das Denken nach ihm frei in andere Zugänge seiner selbst zu einem auch in sich nun wesenhaft anders zu verstehenden Gott.

    Hier berühren wir den Punkt, an welchem die geschichtliche Bedeutung der Kantschen Kritik der Gottesbeweise aufscheint, und so nehmen wir die Frage auf, welche sich uns in der bislang unscharfen Einstellung unseres Hinblicks auf seinen Gedanken zuspitzte: Wie und woher kann ein in sich einziger Gedanke erwachsen, der so vielfältige und weittragende, geradezu gegensätzliche Tendenzen in sich zusammenbindet?

    Daß es ein einziges Geschick abendländischen Denkens ist, welches in diesen verschiedenen Tendenzen waltet, läßt sich aus dem Gesehenen bereits vermuten: Der Geist, der unterwegs zu sich selbst ist, ist unterwegs sowohl zu seiner Ursprünglichkeit, Totalität und Universalität als auch zu seiner Einsamkeit mit sich selbst. Er ist so wiederum zugleich unterwegs zu einem Gott, der die totale Alleinigkeit von allem im Geiste bedeutet, so aber in der Gefahr steht, als Selbstprojektion des Geistes in sich zusammenzubrechen. Damit ist er aber auch unterwegs über sich hinaus zu einem Gott, der – im Zug des Geistes zur Unendlichkeit diesen je schon beunruhigend – dort neu aufzugehen vermag, wo der Geist sich selbst als nur endlichen übernimmt.