Glauben – wie geht das?

Die „Logik“des Kreuzes

Daß das Kreuz in all seiner Rätselhaftigkeit, in seinem elementaren Widerspruch zur Erwartung auch der Jünger angesichts der Botschaft Jesu vom kommenden Gottesreich einer tieferen Logik Gottes entspricht, davon kündet die Schrift allenthalben. Es „mußte“ so kommen.

Dieser Ausdruck, der auch bei Markus und Matthäus seinen Anhalt hat (vgl. Mk 8,31; Mt 16,21), steht für Lukas in der Mitte. Glaubensgehorsam heißt, sich hineingeben in das, was von Gott her so kommen muß, Glaubensverständnis heißt, in dem noch so ungewohnten Gang der Dinge die planvolle und zielstrebige Hand Gottes anerkennen (vgl. zum „Muß“ im Kontext des Kreuzes bei Lukas vor allem 2,49; 9,22; 17,25; 22,37; 24,7.26.44; Apg 17,3). Dieses Müssen bindet das Kreuzesgeschehen zurück an den heilwirkenden Willen des Vaters und weist zugleich nach vorne, hin zur Herrlichkeit als der Folge der Erniedrigung.

Eng verwandt und verwoben mit diesem „Muß“ ist ein anderes Motiv, dem nachzugehen unseren Rahmen sprengte: Die „Schrift“, die Verheißung Gottes im Alten Testament, muß eingelöst werden – und gerade das Kreuz steht in der Linie ihrer Erfüllung (vgl. bes. die Matthäuspassion).

Achten wir einmal auf einige Verstehensmodelle neutestamentlicher Schriften, die uns – über die beiden genannten Motive hinaus – in die Logik des Kreuzes, genauer der Gottesherrschaft im Kreuz einführen.

[81] Von der Bedrängnis zur Hoffnung

Grundlegend erscheint die „umgekehrte Logik“ des christlichen Vollzugs, in die uns Paulus im Römerbrief einweist (Röm 5,1–5). Hier wird die Konsequenz aus der Tat jener unbegreiflichen Liebe Gottes gezogen, daß er seinen Sohn für uns Sünder hingibt (Röm 5,6–11). Wenn er an uns so handelt und wenn dieses Handeln in uns selber wirksam wird durch den Geist, der in uns wohnt und in dem diese Liebe Gottes uns erfüllt und durchdringt (5,5b), so kann unser eigenes Reagieren auf die Umstände nur in einer totalen Umkehrung der „normalen“ Verhaltensmuster bestehen. Bedrängnis kann dann nicht Enttäuschung, Enttäuschung nicht Resignation, Resignation nicht Verzweiflung bewirken. Die neue Logik führt genau in die andere Richtung: Aus Bedrängnis wächst Geduld, aus Geduld Bewährung, aus Bewährung Hoffnung, eine Hoffnung, die sich nicht enttäuschen, nicht falsifizieren läßt, weil eben ihr Grund die je größere Liebe Gottes ist. Querschläge, Bedrängnisse, Enttäuschungen bauen zwar vorschnelle Erwartungen ab, aber unter diesen Erwartungen tritt zutage, was durchträgt: die Geduld, wörtlich übersetzt aus dem Griechischen das „Darunterbleiben“, Bleiben unter dem Handeln Gottes, in seiner größeren und mächtigeren, weiterführenden Nähe, die sich nicht in dieser oder jener Aktion, sondern in einem haltenden und tragenden Dasein für uns und mit uns bewährt. Und so wächst gerade auch unsererseits jene Bewährung in der Gelassenheit, die nicht mehr auf Stöße und Anstöße reagiert, sondern sich in der Hoffnung verankert, die keine Gründe mehr kennt, um so besser aber den Grund. Diese selbe Logik ließe sich auch aus dem 8. Kapitel des Römerbriefs erheben, sie steht auch im Hintergrund des 1. Kapitels des 2. Korintherbriefs, des großen „Trostkapitels“ bei Paulus.

Ist diese Logik des christlichen, Christus nachfolgenden Leidens und Hoffens nicht auch und zuerst die Logik des Kreuzes Christi selbst? Was Paulus im ersten Kapitel des 1. Korintherbriefes über die Torheit und Schwäche des Kreuzes sagt, in welchen sich Gottes Weisheit und Kraft durchsetzen und vollenden, spricht jedenfalls [82] dafür. Das Kreuz ist der Skandal für jenen, der Erklärung und Erfolg sucht. Darin daß Offenbarwerden, daß menschliches Nachdenken und auch ein frommes Paktieren mit dem in meinem Erfolg seine Macht erweisenden Gott das Dilemma menschlichen Lebens und menschlicher Geschichte nicht lösen können. Wo Gott alles in allem werden, wo seine Herrschaft aufgehen, wo er selber die aktive Mitte meines Lebens und der Geschichte werden soll, da bieten sich geradezu das Unbegreifliche und Ohnmächtige an, damit in ihm Gott sichtbar macht: er ist der allein Wissende und Mächtige. Und dies nicht in einer kleinlichen Größe, die dem Menschen das Seine nehmen will, sondern in jener liebenden Größe, die den Menschen dazu herausruft, sich und das will sagen sein Wissen und Können und Erwarten zu lassen und so in die Größe des schenkenden, liebenden Gottes hineinzuwachsen. Der im Kreuz Christi schwache und törichte Gott ist der größere, göttlichere Gott.

Integration

Brechen wir hier ab und schauen auf einen scheinbar ganz anderen Gedanken. Indem alles anders kommt, als man es zunächst erwarten kann, indem Jesus von den Anführern seines Volkes verworfen wird, gekreuzigt wird und nach seiner Auferstehung zum Vater heimkehrt, erfüllt sich der göttliche Heilsplan: Heil für alle, Mission der Heiden, Eintritt der Völker in die Fülle des in Christus geschenkten Lebens. Dieses „Muß“, dieser Sinn des sich im Kreuz vollendenden Schicksals der Botschaft und des Wirkens Jesu ist auf vielfältige Weise im Neuen Testament bezeugt (vgl. Mk 13,10; für andere Zeugnisse der synoptischen Überlieferung Mt 8,11f.; Lk 13,28. 29; sodann Röm 9–11; Joh 10,16; 11,52; 12,20–25; vor allem freilich die Stoßrichtung der Apg). Johannes sieht gerade im Leiden Jesu die alle, auch die fremden und zerstreuten Söhne Gottes sammelnde Tat des Gotteshirten und erklärt dies mit dem Gesetz des Weizenkorns, das in die Erde fallen und sterben muß, um vielfache Frucht zu bringen.

Sammeln, vereinen, integrieren ist aber nicht nur eine Folge des [83] Schicksals Jesu, die von Gott für sein Ziel genutzt und positiv in seinen Heilsplan einbezogen wird. Es ist auch nicht nur eine Intention der Liebe Gottes und Jesu, der sich dem grenzenlosen Heilsplan Gottes ausliefert und eben für alle sein Leben hingibt. Es ist der Inhalt des Sterbens und aus dem Sterben neu erwachsenden Lebens Jesu. In diese Richtung weist die Theologie des Epheserbriefes. Die Gemeinde aus Juden und Griechen, die neue Einheit, die über alle Grenzen hinaus erwächst, ist für den Epheserbrief das Zeichen des von Anfang an verborgenen und in Jesus sichtbar gewordenen Heilsplans. Er wird Wirklichkeit am Kreuz, dort, wo Jesus die Scheidewand einreißt und allen den neuen Zugang zum Vater eröffnet und somit den Zugang zueinander (vgl. Eph 2,11–22; auch Kapitel 3 im ganzen). Vom Kreuz aus zieht der Epheserbrief die Linie durch zur Himmelfahrt, zur Erhebung Christi als Haupt seines ganzen Leibes, ja des ganzen Kosmos. In seiner Heimkehr zum Vater, von wo aus er der Herr seines Leibes, der Kirche ist, wird sichtbar, daß in ihm das Ganze, das All seine neue Einheit, seinen neuen Zusammenhang erhält (Eph 1,3–10; 1,15–23; 4,1–16; vgl. auch Kol 1,15–21).

Alles ist durch Christi Leiden und Sterben von Gott angenommen, ausgehalten, ausgelitten, in Gott hineingenommen und hat so seinen Ort, seine Einheit, seine Integration in ihm gefunden. Hier bricht Herrschaft Gottes an.

So knüpft sich allerdings doch der Zusammenhang zwischen einer Logik des Kreuzes, die Gott allein groß sein läßt und im Leiden die Größe Gottes einholt, wiederholt, spiegelt, und einer Logik der Integration, die im Ausleiden und Aushalten der gesamten Menschheitsgeschichte und Schöpfungswirklichkeit die universale Einheit stiftet. Das erste ist, wenn es so ungewöhnlich formuliert werden darf, Logik zum Vater hin: Er allein soll groß sein, in ihm allein ruht der Sinn und die Erfüllung. Das zweite ist entsprechend die Logik vom Vater her: Sein alles vereinender, sammelnder, verbindender Wille wird wirksam, indem das Ganze erlitten und so erlöst wird.

[84] Zusammenschau

Legen wir denselben Weg nochmals in eiligen Schritten zurück, nunmehr aus dem Ansatz der Botschaft von der Gottesherrschaft, wie Jesus sie vor Ostern verkündet hat, um aus ihrem inneren Gang das Kreuz und somit den Wechsel zur österlichen Perspektive zu verstehen.

Gott rückt von der Peripherie ins Zentrum der Geschichte. Er, von dem allein alles kommt, will sich uns nicht vorenthalten, sondern wir sollen ganz und offen von ihm leben können. Zuendegehen der Zeit, Abschied, gar Tod sind vom Ansatz her überwunden. Die Machttaten Jesu bekunden und bestätigen das im Sinn der zeichenhaften Vorwegnahme. Und nun muß Jesus in den Tod, wird er von Mißverständnis und Ablehnung in die Katastrophe, in die Auslieferung getrieben. Warum dieser Weg?

Wenn Gott Gott ist, wenn er die einzige Quelle unseres Lebens ist, dann muß er auch die einzige Quelle unseres eigenen Wollens und Erwartens werden. Von ihm her leben heißt, nicht mehr von den eigenen Plänen her leben, von den eigenen Maßstäben und Wünschen, wie ganzes, erfülltes Leben geht. Er allein hat recht. Solange ich seinen Weg mit den Vorgaben meines Erwartens und Urteils blockiere, ist er im innersten Punkt der Welt, in meinem Herzen, noch nicht ganz Gott. Und solange die totale Übergabe an den Willen Gottes, an seine eigene Herrschaft, nicht aus der Situation der äußersten Ferne dieser Welt und dieser Geschichte zu Gott geschieht, ist das Äußerste der Geschichte noch nicht integriert in die Herrschaft Gottes. Herrschaft Gottes geht dort auf, wo sie im Innersten und im Äußersten aufgeht, in der totalen Hingabe des menschlichen Herzens aus der Situation der Gottferne, des Abgrundes, des Todes. Jesu Ja zum Willen des Vaters in der nicht abgewendeten Situation des Sterbens in Verlassenheit und Elend ist so der Punkt des Einbruchs der Herrschaft Gottes.

In Jesus kommt Gott selbst dorthin, wo wir sind, kommt Gott an den von Gott entferntesten Punkt der Schöpfung. Er trägt alle Last und alle Verlassenheit dieser Welt. Er nimmt die ganze Geschichte [85] der Menschheit auf sich, er ruft von den Enden der Erde und der Geschichte durch den Abgrund der Schuld und des Todes hindurch sein „Abba, Vater!“. Das Gebet des 22. Psalms, der in den Leidensgeschichten der Evangelien den Weg der Passion immer wieder begleitet und den nach Markus und Matthäus Jesus als Schrei der Verlassenheit, der sich in Vertrauen wendet, dem Vater entgegenruft, ist sozusagen die Wegkarte der anbrechenden Gottesherrschaft.

Im absoluten Gehorsam Jesu geht Gott in der Geschichte ganz als Gott auf, in der Übernahme der gesamten Menschheitsgeschichte und Menschheitsschuld im Sterben des menschgewordenen Sohnes Gottes geht Gott in der Geschichte auf als der Gott des Ganzen. Und so ist die Tat des demütigsten Gehorsams gegenüber dem Vater zugleich die Tat der größten Liebe sowohl des Sohnes zum Vater wie des Vaters zum Sohn wie beider zur Menschheit. Der Sohn sagt zum Vater in unserem Fleisch: „Nur du“. Der Vater schenkt dem Sohn, dem er alles auflädt, alles. Er schenkt ihm, in seiner Menschheit den Anfang der neuen Schöpfung zu vollbringen, und beide schenken uns jene Liebe, über die hinaus es keine größere geben kann: die Liebe, die unsere ganze Last trägt, die Liebe, die uns so aus der Ferne in die Nähe und Gemeinschaft mit Gott hineinläßt, die Liebe, die sich Vater und Sohn gegenseitig schenken als Geist, damit wir in dieser Liebe, die ausgegossen ist in unseren Herzen, im Vertrauen auf die Erlösungstat Jesu Stück um Stück unser Leben und die Geschichte verwandeln können.

Die Lesung des Kreuzesweges vom Anfang her ist zur Lesung des Kreuzesweges vom Ende her geworden: im Herzen Jesu, der in seiner radikalen Auslieferung an den Willen des Vaters und Annahme der Last aller Welt sich als der unendlich, göttlich liebende, somit aber göttliche Sohn Gottes erweist.