Spiritualität und Gemeinschaft

Die Mehrursprünglichkeit von Gemeinschaft*

Also noch einmal: Wie geht Gemeinschaft? Wir sahen bereits: Gemeinschaft geht, indem ich den ersten Schritt mache und du ebenso. Gemeinschaft ist immer Gemeinschaft zwischen den Partnern des je ersten Schrittes. Was aber diese Partner bei ihrem je ersten Schritt überrascht und beglückt, ist dies: Ihre Schritte sind Schritte im einen, im selben. Indem jeder die Wand zum anderen durchbricht, entdecken wir, daß es in der Tat ein Raum ist, der uns umfängt, der uns nicht nur durch unser Wollen, sondern auch sozusagen von sich selber her aufeinander bezogen, füreinander bestimmt sein läßt. Der Anfang, den wir aufeinander zu setzen, stößt vor in einen Anfang, der uns bereits umfängt. Ein Geist geht von uns beiden aus; er ist nicht aus zwei Hälften zusammengesetzt, sonst könnte er ja gar nicht Geist und ein Geist sein. Unser Anfang ist schöpferisch, aber er schafft aus verschiedenem Ursprung dasselbe. Und was er erschafft, das ist nicht Gemächte, verdankt sich nicht nur unserer Produktivität. Mehr als Frucht unserer Initiative ist es Geschenk, Entdeckung, Zustimmung zu dem, was größer ist als wir und gerade darin uns in Übereinstimmung bringt. Der erste Schritt aufeinander zu ist der gemeinsame erste Schritt auf das zu, was sich uns gemeinsam schenkt und was uns unsere Gemeinschaft gewährt. So läuft alle Gemeinschaft nicht nur in der horizontalen Mehrursprünglichkeit: ich zu dir, du zu mir. Sie läuft zugleich in der vertikalen Mehrursprünglichkeit: wir zum einen und [82] darin erst (und darin doch schon zuvor) das eine zu uns.

Dieses allgemeine Gesetz von Begegnung und Gemeinschaft gilt auf einem neuen Niveau dort, wo Gemeinschaft zwischen Menschen der Ort ist, an dem sich Gottes Nähe der Welt bezeugen will: in der Kirche. Wo zwei oder drei zueinander aufbrechen um seinetwillen, in seinem Namen, da ist er bereits im Aufbruch, um in ihrer Mitte zu sein (vgl. Mt 18,20). Wo Menschen in Glaube und Liebe unterwegs sind zueinander, da ist eben jener Geist am Werk, der allein Glaube und Liebe zu schenken vermag, und in seinem Geist ist der Herr selbst zugegen. Nur wo solches gelebt und erfahrbar wird, bezeugt sich der Unterschied jener Gemeinschaft, die Kirche ist, von einer bloßen Organisation und Institution Kirche. Es ist die unlösbare Kehrseite des Stiftungsvorganges, in welchem der Herr seine Gegenwart zusagt über alles menschliche Vermögen und Leisten hinaus bis ans Ende der Tage, aber gerade zusagt als ein Sein bei seiner Kirche, bei der Gemeinschaft der Seinen (vgl. Mt 28,20). Wo er, wo sein Geist ist, da wächst Gemeinschaft – wo Gemeinschaft aus ihm und um seinetwillen ist, da ist sein Geist, da ist er selbst. Er macht den ersten Schritt, versammelt durch seinen Geist Kirche, anders gewendet: Kirche stiftend, stiftet er Gemeinschaft – wir tun aufeinander zu und miteinander auf ihn zu den ersten Schritt, und so kommt er in unsere Mitte. Dies ist sozusagen die „doppelte Gründung“ von Kirche. Nur weil er Kirche gründet und stiftet, nur weil er unverfügbar und unwiderruflich sie ins Leben ruft, kann sie sein. Aber nur weil Menschen nachfolgen und in der Nachfolge sich auf ihn hin versammeln, gibt es Kirche als den Ort, an dem er unter Menschen dasein und sich bezeugen kann. Freilich ist gerade so er der einzige Herr und Gründer [83] der Kirche; denn daß wir uns in ihm und auf ihn zu versammeln können, liegt an ihm. Sein Anfang ist wirksam, indem wir anfangen; Anfang von uns aus entdeckt sich und verdankt sich als Anfang von ihm her.

In diesem ekklesiologischen Grundbefund verdichtet sich die Struktur christlicher und menschlicher Gemeinschaft überhaupt. Gemeinschaft gelingt nur dort, wo sie Aufbruch aus je eigenem Ursprung in ein Gemeinsames ist, das mehr ist als bloßes Ergebnis solchen Aufbruchs, in dem vielmehr der Ursprung selbst sich gibt. Wenn Menschen sich einander geben, dann geben sie sich zugleich etwas, das ihnen gegeben sein muß, das mehr ist als alles, was sie sich selber geben können. Gemeinschaft geht nicht ohne Spiritualität, ohne das gemeinsame Gehen in einem Raum ursprünglichen, sich schenkenden Lebens.