Christliche Spiritualität in einer pluralistischen Gesellschaft

Die Methode: Orientierung am „ Maximum“

Wie aber sollen wir von unserer Situation aus die Mitte des Christlichen aussagen? Wie kann heute die Identifikation und damit zugleich die Unterscheidung des Christlichen gemäß gelingen?

Es ist für uns beinahe selbstverständlich geworden, hier eine Methode in Anschlag zu bringen, die sich am Minimum orientiert. Man sucht ja den Kern, man möchte alles das ausscheiden, was nur Schale ist, und deshalb stellt man die Frage nach dem, was Jesus vor aller Deutung, was seine Botschaft vor aller Auslegung, was seine Intention vor aller Interpretation sei. Man versucht also, den Ursprung möglichst dicht bei seinem Aufspringen zu fassen.

Doch hier stellt sich die Gegenfrage: Ist das überhaupt möglich? Und wird man so Jesus überhaupt gerecht? Ist Jesus nicht Ursprung, der schon immer über sich hinausspringt? Will er nicht Nachfolge? Geht er nicht erst dort auf, wo andere sich von ihm rufen lassen, wo andere für ihn Zeugnis ablegen? Ist er nicht je größer als er selbst und somit gar nicht isoliert in sich selbst sichtbar?

Gewiß macht diese Gegenfrage die historische Suche der ureigenen Worte und Taten Jesu, das sichernde Interesse am Urbestand des vorösterlich Jesuanischen keineswegs überflüssig. Doch müßte die „minimale“ Methode durch eine andere ergänzt werden, und gerade erst [95] in dieser Ergänzung könnte das Entscheidende und Eigene des Christlichen erscheinen. Wir müssen es auch einmal riskieren, nach dem Maximum zu fragen, will sagen, nach jener Auszeugung der Mitte in der Peripherie, die sie allererst als Mitte er-meßbar macht. Der Mittelpunkt ist in einem kleinen Kreis weniger genau auszumachen als in einem großen Kreis; der Same läßt sich am verläßlichsten durch die Pflanze identifizieren, die ihm entwächst.

Es gilt also, die Urgestalt christlichen Glaubens aus seiner Vollgestalt her zu lesen, die sich im Gesamt der neutestamentlichen Überlieferung und in ihrer Rezeption durch die Kirche bezeugt. Dies ist gerade kein äußerer, entfremdender Zusatz zum Jesuanischen, sondern seine innere Konsequenz. Wenn Jesus Nachfolge will, dann geht er erst in der Nachfolge auf, ist er dort er selbst, wo er dem, der ihm nachfolgt, alles, das Ganze, das Größte bedeutet.

Wenn schon Jesu Botschaft ein Entscheidungsruf ist, dann kann die Perspektive auf das unterscheidend Christliche nur aus dem Vollzug der Entscheidung, aus der Antwort der Entscheidung für ihn formuliert werden. Niemand kann sagen „Herr ist Jesus Christus“ außer im Heiligen Geist (1 Kor 12,3). Der Standort, an welchem das Jesuanische erst zum Christlichen wird, ist also nicht der eines neutralen historischen Rückblicks, sondern einer geschichtlichen Nach-folge, in welcher der Überschuß des Ursprungs, der Geist, wirksam wird.