Der Himmel ist zwischen uns

Die Mitte der Botschaft

In unseren Gottesdiensten wird das Evangelium verkündet. Das ist mehr als bloß Erinnerung, Ausblick, Appell. Die Geschichte, von der das Evangelium erzählt, findet jetzt statt, ist unsere Geschichte. Und das nicht deswegen, weil die Ideen und Impulse des Evangeliums weiterwirken, weil die Sache Jesu nicht sterben kann. Nein, weil der Herr lebt, weil er wirkt, weil er gegenwärtig ist, passiert zwischen ihm und uns, was damals passiert ist. Das bei der Eucharistiefeier verkündete Evangelium ist nicht nur der Theaterzettel für das, was hernach verborgen im Sakrament geschieht. Evangelium und Sakrament sind Verkündigung, Sakrament und Evangelium sind aber nicht weniger auch Begegnung, Ereignis, Gegenwart des Herrn.

Der liturgische Vollzug der Verkündigung deckt indessen auf, was die Botschaft insgesamt will, ja was sie ist. Hier sprechen nicht nur geisterfüllte Zeugen zu uns vom Herrn, hier spricht der lebendige gegenwärtige Herr selbst zu uns. In der ältesten Schrift des Neuen Testaments, im 1. Thessalonicherbrief, sagt Paulus von seiner eigenen Verkündigung: „Ihr habt das Wort Gottes, das ihr durch unsere Predigt empfangen habt, nicht als Menschenwort, sondern als Gottes Wort angenommen, das es in Wahrheit ist. Und jetzt ist es in euch, den Gläubigen, wirksam“ (1 Thess 2,13).

Diese Aussage zielt in die innerste Tiefe der kirchlichen Verkündigung und der Heiligen Schrift. Sie hebt ans Licht, was [35] Ziel, Voraussetzung und Inhalt der neutestamentlichen Schriften ist. Manchmal sind wir versucht, darüber enttäuscht zu sein, daß Jesus selbst nichts aufgeschrieben hat, daß die neutestamentlichen Schriften erst später kommen als die ersten, grundlegenden Ausformungen der Botschaft in der mündlichen Überlieferung. Solche Enttäuschung aber wäre ein Missverständnis. Die Schrift will nicht nur konservieren, was einmal war, sie will bezeugen, was ist: der auferstandene Herr, lebendig inmitten seiner Gemeinde.

Das ist Ziel der apostolischen Ermahnung, aber auch des Berichts von dem, was Jesus verkündet und gewirkt hat. Die Gemeinden sollen so leben, daß der Herr in ihrer Mitte leben kann; der Herr, mit dem sie jetzt Gemeinschaft haben, soll ihnen sichtbar werden als derselbe gestern, heute und in Ewigkeit (vgl. Hebr 13,8).

So sehr sich das Wort der Schrift als vollmächtiges Wort an die Gemeinden versteht, so sehr es den Aufbau und die Erneuerung der Gemeinden also zum Ziel hat, so deutlich sprechen die neutestamentlichen Schriften doch bereits auch aus dem Bewußtsein und der Erfahrung lebendiger Gemeinden heraus. Ohne solche Gemeinden gäbe es die Heilige Schrift des Neuen Testaments überhaupt nicht. Die Gemeinden sind Voraussetzung, damit das Neue Testament geschrieben werden konnte. Lebendige Gemeinden, das meint Gemeinden, die nicht allein von Jesus, von seiner Botschaft und Geschichte gehört haben, sondern die jetzt, gegenwärtig, ständig mit dem österlichen Herrn leben, mit ihm Erfahrungen machen. Paulus ruft der Gemeinde von Korinth zu: „Fragt euch selbst, ob ihr im Glauben seid, prüft euch selbst! Erfahrt ihr nicht an euch selbst, daß Jesus Christus in euch ist?“ (2 Kor 13,5). Der Herr in seiner Gemeinde – hier liegt der Unterschied zwischen christlicher Gemeinde und anderen [36] Gemeinschaften, die das Erbe ihres Gründers weitertragen.

Und daß der Herr lebt, daß er seine Gemeinde sammelt, sie stärkt, sie in Anspruch nimmt, ihr Hoffnung und Mut zum Durchstehen gibt, ihr neue Menschen zuführt, sie begleitet auf dem Weg zu seinem letzten Kommen in Herrlichkeit: das ist Inhalt der neutestamentlichen Schriften. Gehen wir dem ein wenig nach, schauen wir wenigstens kurz in einige Gruppen und Schichten des Neuen Testaments hinein.

Unter den 27 Schriften des Neuen Testaments finden sich 21 Briefe, großenteils Briefe an eine oder mehrere Gemeinden. Auf den ersten Blick steht im Vordergrund die Ermahnung zu Wachsamkeit und Hoffnung auf den kommenden Herrn und zur Treue der empfangenen Botschaft gegenüber. Das, was geschah, und das, was geschehen wird, kreuzen sich jedoch im Jetzt. Die knappste Formel hierfür bietet der Kolosserbrief: „Christus unter euch ist die Hoffnung auf die Herrlichkeit“ (1, 27). Christus unter uns: hier reicht die endgültige Zukunft bereits in unsere Gegenwart hinein, hier wirkt das weiter, was Gott ein für allemal bereits in Tod und Auferstehung Jesu eröffnet hat. Was sich in der Eucharistie verdichtet: die Gemeinschaft mit dem Herrn, die Gegenwart des Herrn als Verkündigung seines Todes, bis er kommt (vgl. 1 Kor 11,26), ist die Realität, ist die Wirklichkeit der Gemeinde insgesamt. Alles Mühen und Mahnen des Apostels hat den Sinn, Kirche als „Leib Christi“ aufzubauen (vgl. Röm 12; 1 Kor 12; Eph als ganzer; Kol 1,18). Dieses Bild stellt nicht nur den Zusammenhang der Glieder untereinander und mit dem Haupt, Christus, dar; nein, dieser Zusammenhang, das Leben des Leibes ist Christus selbst (vgl. 1 Kor 12, 12). Ein anderes Bild für dasselbe: Gemeinde ist der „Tempel Gottes“ [37] (vgl. bes. 1 Kor 3,16f; 2 Kor 6,16); in uns, unter uns wohnt Christi Geist, im Geist ist er selber, ist auch der Vater zugegen. Und letztlich sollen die Gaben des Geistes (vgl. 1 Kor 12) und soll unser Leben aus der Gabe des Geistes, der Liebe (vgl. 1 Kor 13), uns zu jener Gemeinde formen, in welcher selbst ein Ungläubiger die Erfahrung machen kann: „Wahrhaftig, Gott ist unter euch!“ (1 Kor 14,25). Daß der Herr in der Vollmacht und Sendung des Apostels sich der Gemeinde kundtut, daß er im Wort des Heiles, das nicht fern von uns ist, unter uns wirkt (vgl. Röm 10,8), daß wir ihn selbst gleichsam wie ein Kleid anziehen, in ihn hineinwachsen (vgl. Gal 3,27f): dies alles zielt wiederum auf das Eine, auf die Gegenwart des Herrn in unserer Mitte.

Die neutestamentlichen Briefe, vor allem Paulus, greifen an zentralen Stellen zurück auf Formeln, die den Gemeinden bereits bekannt sind, die sich also während der ersten Jahrzehnte der christlichen Geschichte schon so klar ausgebildet haben, daß man sie zitieren und auf ihnen wie auf einem Grundgestein aufbauen kann (um einige Beispiele zu nennen: 1 Kor 12,3; 15, 3f; Röm 1,3f; Phil 2, 6–11; 1 Tim 3,16; 1 Petr 2,22–24). Ob es sich hierbei um Glaubensformeln handelt, die an die elementaren Heilstaten Gottes in Jesus erinnern, ob um Hymnen oder Anrufungen, immer meinen diese Formeln – die bezeichnenderweise aus der Liturgie der Gemeinde stammen – Jesus als den Herrn. In diesem Titel „Herr“ aber kommt immer ein Dreifaches zum Ausdruck: das Verhältnis Jesu zu Gott, seine Erhöhung aufgrund der Auferweckung, seine wirkmächtige Nähe, ja Gegenwart in der bekennenden, feiernden Gemeinde.

Dieses christliche Grundbewußtsein entfaltet sich in den Evangelien. Es ist längst bekannt, sie sind keine Biographien im heute gängigen Sinn. Nicht, daß sie die geschichtliche Wahrheit etwa verbiegen. Aber sie erzählen die geschichtliche [38] Wahrheit so, wie sie für den Glauben ist: als zugleich gegenwärtige Wahrheit. Es ist nur logisch, daß ihr deutlicher Zielpunkt immer Ostern ist. In den Erzählungen vom Auferstandenen, die das Ostergeheimnis erläutern, haben Situationen den Vorrang, die wiederum darauf vorverweisen: Jesus in der Mitte seiner Gemeinde. Die Gemeinschaft und das Mahl, das auf die Eucharistie hindeutet, stehen im Vordergrund. Sicherlich, die Begegnung Jesu mit den ersten Zeugen ist grundlegend, unwiederholbar – aber sie ist auch Eröffnung für das, was auf diesem Grundlegenden bleibt und weiterwächst.

Die Evangelien gipfeln in der Leidens- und Ostergeschichte, und alles andere, was sie berichten, wird auf Ostern zu erzählt, wird Vorgeschichte der Passion und der Auferstehung. Und mehr noch: Die Evangelien sind als ganze Ostergeschichte. Was damals geschah, das geschieht jetzt; was Jesus damals sagte und wirkte, das sagt und wirkt er jetzt – dort, wo wir in seinem Namen versammelt sind. Die Weise, wie heute in unseren Gottesdiensten das Evangelium verkündet wird, ist bereits die Weise, wie das Evangelium geschrieben ist. Der Blickpunkt Ostern ist allen vier Evangelien gemeinsam. Aber die Perspektive der einzelnen Evangelien ist verschieden.

Das Besondere an Markus ist, daß er die literarische Form Evangelium allererst geschaffen hat. Er verankert das, was jetzt verkündet wird, was jetzt in den Gemeinden lebt, in dem, was von Jesus überkommen ist. Er bringt es in jenen Zusammenhang, in jene Ordnung, aus der deutlich wird: Jesu Geschichte ist Vorgeschichte von Ostern, und das vollmächtige Wirken, die vollmächtige Gegenwart Jesu in seiner Kirche setzt sein vorösterliches Lehren und Handeln in Vollmacht fort.

[39] Für Matthäus tritt die Kirche als neues Gottesvolk deutlich ins Zentrum. Er versteht Kirche als brüderliche Gemeinde, deren Mitte der lebendige Herr ist. Das ganze Evangelium schließt mit der Verheißung des Auferstandenen: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt“ (Mt 28,20). Diese Gegenwart Jesu verlangt von der Gemeinde: „Einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder“ (Mt 23,8). Was brüderliche Gemeinde um den einen Meister heißt, führt am ausdrücklichsten das 18. Kapitel, das „Gemeindekapitel“, vor Augen. Demut und gegenseitiges Dienen, Ehrfurcht vor dem Geringsten und Sorge für ihn, Verantwortung für den Bruder, die Schwester, Leben aus der ständigen gegenseitigen Vergebung: solche Haltung baut geschwisterliche Gemeinde auf. Sie ist zugleich die Bedingung, damit in Erfüllung gehen kann, was sozusagen die Achse des ganzen Kapitels ist: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18, 20). Dieses Wort sagt gewiß mehr als bloß die allgemeine, helfende und geleitende Gegenwart des Herrn bei seiner Kirche; es verdichtet die vielen Aussagen über die Nähe des Herrn, indem es uns verheißt: Wo wir in seinem Namen eins sind, da tritt er selbst ereignishaft, personhaft, erfahrbar in unsere Mitte.

Das Lukasevangelium, das sich in die Apostelgeschichte hinein fortsetzt, ist nicht nur das Evangelium von Jesus als dem Heiland der Welt, gerade auch der Heiden, gerade auch der Armen und der Sünder, es ist auch das Evangelium des Heiligen Geistes. Der vom Heiligen Geist aus Maria der Jungfrau Empfangene und der vom Geist Gesalbte und Geführte teilt seinen Geist der Kirche mit, auf daß sie sein Werk weitertrage, auf daß sie – so dürfen wir sagen – der fortlebende Christus für die Welt sei. Kennzeichen dieser Liebe sind geschwisterliche Gemeinschaft, als deren Urbild die Gemeinde [40] von Jerusalem vorgestellt wird, und missionarische Kraft, die zu den Heiden, zu den Fernen hinfindet. Das Lukasevangelium hebt dreifach an mit der Empfängnis Jesu vom Heiligen Geist, mit der Geisterfüllung bei der Taufe am Jordan, mit der Geistpredigt in der Synagoge von Kapharnaum. Die Apostelgeschichte hebt entsprechend an mit der Herabkunft des Heiligen Geistes auf die Jünger an Pfingsten. Es könnte bei Lukas so aussehen, als trete die Gegenwart des erhöhten Herrn vor der Gegenwart seines Geistes zurück. Doch der Geist wirkt gerade die Verbindung mit dem erhöhten Herrn. In der Apostelgeschichte wird dieses Erscheinen und Handeln des erhöhten Herrn wiederholt hervorgehoben, etwa bei der Steinigung des Stephanus, etwa bei der Bekehrung des Saulus.

Das vierte Evangelium ist am deutlichsten und radikalsten das Evangelium vom erhöhten als dem gegenwärtigen Herrn. Man könnte den Impuls des Johannesevangeliums in einem Satz zusammenfassen: Bleibet in mir, und ich bleibe in euch!

Von einer Schrift haben wir noch nicht gesprochen, von der Offenbarung des Johannes. Ihr Blick richtet sich ganz auf die Vollendung. Das Bild der Vollendung aber ist das Himmlische Jerusalem, das keinen Tempel mehr braucht, weil Gott selbst ihr Tempel ist. Und keine Sonne, weil Gott und das Lamm ihr Licht ist (vgl. Offb 21,22f). Der Herr in der Mitte seines Volkes – darauf läuft die Geschichte zu. Dieses Ende wirkt aber bereits in die Gegenwart hinein: Der Herr erscheint mitten unter den sieben Leuchtern, die sieben Leuchter aber sind die sieben Gemeinden, das Sinnbild aller christlichen Gemeinden (vgl. Offb 1,12–20).

Der Herr in der Mitte seines Volkes: dies ist freilich auch bereits im ganzen Alten Testament die Hoffnung und das gegenwärtige Zeichen des Heils. Dies zeigen die Propheten [41] als das Ende der Geschichte an: Der Herr wird ewig auf dem Zion in der Mitte seines Volkes wohnen, und alle Völker werden hinaufsteigen zu ihm. Dies ist aber auch der Weg des Volkes durch die Jahrhunderte, wie er Gestalt wird zumal im Auszug aus Ägypten und in der Rückkehr der Verbannten nach Jerusalem: Der Herr selbst, der Gott des Bundes, zieht mit. Jahwe ist der Gott des Himmels und der Erde, er ist größer als die Götter der Völker; denn ihm gehört alles, und er ist über allem. Aber dieser unendlich große Gott ist zugleich der ganz nahe, jener, der für dieses eine Volk und mit ihm da ist, der in ihm seine Geschichte macht und seine Stätte hat.

Den Weg, den Gott mit seinem Volk geht, setzt er fort, geht er weiter in Jesus mitten unter uns. Und doch geht er ihn neu, geht er ihn so, wie er ihn im ganzen Alten Bund nicht gegangen ist. Der Gott inmitten des Bundesvolkes: Gott in der Feuersäule, Gott in der Wolke, Gott über den Cherubim. Jesus in unserer Mitte: Gott in einem Menschen, Gott in einem von uns, unter uns. – Unser eiliger Durchgang durch das Neue Testament ist großteils Bestätigung von schon Bekanntem. Wir wissen: Kirche ist die Bezeugung des erhöhten, lebendigen Herrn, sie lebt aus dem Kontakt, aus der ständigen Beziehung mit diesem erhöhten Herrn, ja sie ist selber der fortlebende Christus. Ist uns indessen auch das andere bekannt, bewußt, worauf sich diese Aussagen zuspitzen: Der Herr will immer und überall dort, wo Glaubende versammelt sind, persönlich in ihrer Mitte dasein, sich bezeugen, wirken? Hier bleibt eine Beunruhigung zurück. Kommt es auch für uns am meisten darauf an, daß der erhöhte Herr da ist inmitten der Seinen? Ist das unser Bild von Christsein und Kirche? Könnte das auch heute einer erfahren, der als Fremder in unsere Versammlungen und Gottesdienste eintritt? Wenn nein, wäre [42] dann nicht eine Bekehrung von Grund auf fällig? Müsste hier nicht unsere Sorge um die Zukunft des Christentums und der Kirche, müsste hier nicht unsere Bemühung um Erneuerung und Reform einsetzen?