Der Himmel ist zwischen uns

Die Mitte kommt zum Rand

Als Jesus auftrat und die Herrschaft Gottes ansagte, brach eine Hoffnung auf. Der Gott, der im Alten Bund es immer wieder sagte und in den Taten seiner Macht es offenbarte: Ich vergesse dich nicht!, der Gott, der seine Hand vom Himmel ausstreckte, um zu retten und um den Bund anzubieten: dieser Gott greift nun zu, er schafft die Wende, ganz, für immer. Jesus treibt die Dämonen aus, die den Menschen besetzt halten, ihn überfremden, ihm den Zugang zur eigenen Mitte, zur eigenen Freiheit versperren. Jesus geht auf die Aussätzigen zu, die abgeschnitten sind von der menschlichen Gemeinschaft. Die nicht „dazugehören“ – die Zöllner, die Frauen, die Heiden – spricht er an, holt er heraus aus ihrer Isolierung. Er verweilt gerade bei dem Gelähmten, der sagt: Ich habe keinen Menschen. Er speist mit den Sündern, verurteilt die Ehebrecherin nicht und vergibt die Schuld. Krankheit und Tod läßt er nicht stehen als unabänderliches Geschick, er heilt und weckt auf. Er bricht die Übermacht der widrigen Gestalten des Schicksals und der Natur.

Also: Schuld, Tod und Einsamkeit heißen die Randsituationen, in welche der Mensch geraten ist, da er selber, aus eigener Kraft, die Mitte sein wollte. Von diesem Rand hebt Jesus in der Kraft Gottes den Menschen hinweg. Und jenen, die in Macht, Besitz und Selbstgerechtigkeit sich selber vorspiegeln, sie seien nicht am Rand, reißt er – hart, aber heilsam – die Maske ihrer Selbsttäuschung vom Gesicht. Seine Botschaft deckt es [28] auf: Wir alle sind am Rand – und wir bleiben dort, wenn wir nicht umkehren und uns von Gott helfen lassen! Aber mehr noch als Gottes Gericht ist diese Botschaft Gottes Angebot und Einladung: Kommt zum Hochzeitsmahl, auch und gerade ihr Krüppel und Bettler! Der Nächste, der Mensch am Rand ist die Achse, ist die Mitte, um die sich das erbarmende Wirken Jesu dreht.

Und doch unterscheidet er sich von allen, die nur aus der Kraft menschlichen Mitleids dem Menschen dienen und seine Welt menschlicher zu machen suchen. Er spricht und handelt in Vollmacht. Darin, wie der Mensch zu ihm steht, entscheidet sich Heil oder Unheil. Er selbst kann – was keiner konnte – Nachfolge fordern. Jesus ist Mitte.

Aber gerade nicht Mitte, die sich selber genügt. Augenblick für Augenblick lebt er aus dem Vater: Seine Speise ist es, den Willen des Vaters zu tun. Der Vater allein zählt. Der Vater ist die Mitte. Gerade deswegen geht es Jesus auch um den Menschen – denn dem Vater selbst geht es um den Menschen. Und ebenfalls gerade deswegen geht es um Jesus – denn dem Vater selbst geht es um Jesus, um seinen einzigen, geliebten Sohn. Jesu Weg ist der Umweg über den Vater.

Von Jesus ging nicht nur die große Hoffnung, von ihm ging auch der Schock, die große Enttäuschung aus. Die Menschen müssen umdenken: Ausgerechnet nach dem überwältigenden Zeichen der Brotvermehrung streicht Jesus mit aller Entschiedenheit die Erwartung durch, als ob er der neue Mose im Sinne eines Brotkönigs wäre. Nein, er selber ist Brot für das Leben der Welt, Brot, das sich zerbrechen läßt, zur Speise wird. Die Scheidung der Geister, der Abfall der vielen beginnt. Die Jünger müssen umdenken: Nach dem Messiasbekenntnis des Petrus mutet Jesus ihm die Leidensweissagung zu. Statt der Plätze zur Rechten und zur Linken verheißt [29] er den Zebedäussöhnen den Kelch des Leidens. Alle Messiaserwartung muß umdenken.

Die Evangelien setzten wie eine Überschrift über das öffentliche Wirken Jesu die Tauf- und die Versuchungsgeschichte. Jesus tritt in die Reihe der Sünder, die von Johannes die Bußtaufe empfangen. Er tritt in die Reihe der Adamssöhne, die versucht werden. Der Messias tut sein Werk als das Lamm Gottes, das stellvertretend die Schuld der ganzen Welt trägt. Der neue Adam gründet die neue Menschheit, indem er, gehorsam bis zum Tod, den Vater allein die Mitte sein läßt.

Jesus macht den „Umweg“ über den Vater, Gott selbst macht in Jesus den „Umweg“ über das Kreuz. Gott reißt die Menschen nicht durch eine schmerzlose Operation seiner Allmacht, durch eine Generalamnestie geradewegs vom Rand in die Mitte; er selbst, die Mitte, begibt sich an den Rand. Doch warum dieser Umweg? Weil es der Umweg der Wahrheit und der Liebe ist. Die Wahrheit tut nicht einfach als ob. Die Wahrheit schaut der Unwahrheit ins Gesicht. Der Mensch, der Schuld, Einsamkeit und Tod nur ausradiert bekäme, dem Narkose oder Vergessen die Startbedingung in den neuen Anfang wäre, hätte gar nicht einen neuen Anfang. Denn seine Vergangenheit wäre ihm gleichsam gestohlen, seine Freiheit und ihr Scheitern wären überspielt. Es passierte bloß etwas mit ihm. Seine Erlösung wäre eine Aktion allein von außen, ohne daß er sie von innen her sich aneignen, sie mittun könnte. So wäre der Mensch degradiert zum bloßen Rand, wo Gott ihn doch geschaffen hat als Mitte. Wir wüssten nicht, wer wir in Wahrheit sind, wenn es uns nicht vor Augen gestellt würde im Bild des leidenden Gottesknechtes, der unser Geschick übernommen hat: Ecce homo – Seht: der Mensch!

[30] Daß er uns aber vorstellt, wer wir sind, daß wir statt an uns an ihm, dem menschgewordenen Gott, es ablesen dürfen; daß er unsere Wunde zur seinen werden läßt: dies ist Liebe. Und wir wüssten nicht, wer Gott in Wahrheit ist, wenn wir nicht seiner Liebe begegneten, die unser Schicksal übernimmt und am Kreuz zu seinem Schicksal, zum Schicksal Gottes macht. Daß unsere Wunde Wunde ist, dies ist Wahrheit; daß unsere Wunde Wunde Gottes ist, daß Gott unsere Wunde im Herzen seines Sohnes ausheilt, dies ist Liebe, und diese Liebe ist Gott: Ecce deus – Seht Gott!

Schuld, Tod und Einsamkeit werden also von Gott nicht bloß in Ordnung gebracht. Seiner Liebe wären Worte und Taten zuwenig gewesen. Es entspricht der göttlichen Radikalität dieser Liebe, daß sie bis zum äußersten geht. „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen Sohn für sie dahingegeben hat“ (Joh 3,16); da „Jesus die Seinen liebte, liebte er sie bis zum äußersten“ (Joh 13,1).

Alle Ausweglosigkeit des Sünders, alle Verschlossenheit des Sünders in sich selbst steht Jesus am Kreuz durch, um aus der Situation des Sünders, wirklich an unserer Stelle, das Ja des unbedingten Gehorsams zum Vater zu sprechen: „Den, der die Sünde nicht kannte, hat Gott für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden“ (2 Kor 5,21). Alle Angst des Menschen angesichts des Todes hat Jesus in seiner Ölbergs- und Kreuzesangst durchkostet. Aus der Enttäuschung, daß ihm der Kelch nicht erspart wird, und aus der Not, daß er nicht vom Kreuz geholt wird, hat er sein „Abba, Vater“ gerufen. Alle Einsamkeit der Welt hat Jesus auf sich genommen, als er von der sechsten bis zur neunten Stunde zwischen Himmel und Erde hing, verlassen von den Menschen, verlassen vom Vater: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34). Gerade die Gottverlassenheit Jesu ist die [31] ganze Wahrheit des Menschen, der am Rande ist, der seine Mitte verloren hat – die ganze Wahrheit der Welt, die für den Menschen ohne Gott zugleich zur schicksalhaft erdrückenden Übermacht und zur heimatlosen Leere wird – die ganze Wahrheit Gottes, der den Menschen und die Welt nicht allein lässt, sondern bis an den Rand geht.

Ja, dieser Gott ist anders, als Adam sich ihn gedacht hat. Er ist nicht selbstgenügsame Seligkeit, kein Gott, der alles hat und aus seiner Überfülle allenfalls Wohltaten austeilt, die ihn nichts kosten, kein Gott, der sich nicht angehen und berühren ließe von dem, was „draußen“ vorgeht, kein Gott, der zum schuldigen Geschöpf sagte: Sieh du zu!, kein Gott, der sich nur um sich selber drehte – vielmehr ein Gott, der Mitte ist, aber nicht einsame Mitte.

Was heißt das? Zunächst einmal: Wir werden diesem Gott zur Mitte. Die Mitte kommt zu uns, kommt zum Rand. Seine Liebe dreht sich um uns, es geht ihm um uns. Aber es heißt noch mehr. Das Innerste Gottes selbst wird offenbar: Jesus ist nicht nur eine Hand, die der Vater durch die Wolken streckt, er ist sein Sohn. In Jesus spielt die Geschichte zwischen Gott und uns, aber diese Geschichte ist auch und zuerst eine Geschichte zwischen Gott und Gott. Es ist Geschichte von Sendung und Gehorsam, von Ausgang und Rückkehr, von gegenseitigem Verherrlichen und Verherrlicht-Werden: Geschichte von Vater und Sohn im Heiligen Geist. Gott ist bereits in sich selbst ein „Gott des Umwegs“: Zwischen Vater, Sohn und Geist geht es je um den anderen. Und nur weil Gott in sich selber Liebe, Sich-Verschenken, Gemeinschaft ist, weil er ein Gott des Zwischen ist, ist er Liebe auch zu uns. Und weil der Schöpfer so ist, hat er sein Geschöpf so erschaffen: Sein Lebensgesetz muss das unsere sein. Um zurückzukommen auf Adam: Wir sollen sein wie Gott – Gott aber ist Liebe, [32] die sich verschenkt.

Wenn das Leben Jesu, wenn zumal das Kreuz Geschichte Gottes mit Gott ist, Geschichte der Liebe, die Gott selbst ist, dann gehört es zur Logik dieser Geschichte, daß sie am Kreuz nicht endet. Wir sind am Kreuz hineingeliebt in die Liebe, die Gott ist, hineingeliebt in sein Leben – und dieses Leben wird an Ostern offenbar. Jesu gehorsame Übernahme unseres Todesschicksals kann vom Vater her keinen anderen Sinn haben als: Liebe des Vaters zum Sohn – und auch dies wird an Ostern offenbar. Ostern ist der Beweis, daß die Mitte, die zum Rande kommt, am Rande nicht untergeht, sich im Rande nicht verliert, sondern den Rand mit sich beschenkt, zu sich heimholt und so noch herrlicher als Mitte aufgeht. Es gibt nun keinen Punkt am Rand mehr, der nicht von der Mitte erfüllt wäre. Nichts Menschliches, das nicht von Gott selbst durchlitten und durchliebt wäre. Kein Schicksal, kein Stück Welt, die nicht dazu verwandelt wären, Sakrament der Liebe Gottes zu sein. In jedem Schmerz, in jedem Abgrund können wir das Antlitz dessen erkennen, der uns geliebt hat. In jede Situation der Welt dürfen wir die Liebe dessen bringen, der bis zum äußersten geliebt und der alles in Liebe verwandelt hat.

Daß es uns um uns selber, daß es uns um den anderen, daß es uns um Gott gehen soll, das ist nicht mehr unvereinbar, das eine steht nicht mehr in Konkurrenz mit dem anderen. Denn es ist die eine Liebe, mit der wir unteilbar Gott, den Nächsten und die Welt und uns selber lieben, das eine und ganze Ja dessen mitsprechen, der uns zuerst und bis zum äußersten geliebt hat.

Ostern hat stattgefunden. Aber ist das nicht zuwenig? Der auferstandene Herr nur als Erinnerung daran, daß die Mitte einmal den Rand besucht hat? Der auferstandene Herr nur als [33] Hoffnung, daß auch wir einmal Ostern an uns erfahren dürfen: Der Rand kommt in die Mitte? Der auferstandene Herr bloß als Appell: Lebe du am Rande aus der Mitte? Ließe all das uns letztlich nicht doch wieder allein? Es fehlte etwas Entscheidendes: der auferstandene Herr zwischen uns, in unserer Mitte!