Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Die Mutter

Ich war einmal Zeuge, wie ein Mitbruder einem anderen nach einer Zeit intensiven gemeinsamen Erlebens zum Dank sagte: „Du bist mir zuvor schon Bruder gewesen, nun aber bist du mir Mutter geworden!“ Eine zunächst befremdliche Formulierung. Aber ist sie so befremdlich, wenn wir in die Schrift hineinschauen? Paulus spricht von den zum Glauben gekommenen Galatern als „meinen Kindern, für die ich von neuem Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt [158] annimmt“ (Gal 4,19). Und im selben Kontext, in welchem er sich an die Anfänge seiner Arbeit in Thessalonich erinnert und dabei sich mit einem Vater vergleicht, sagt er auch: „Wie eine Mutter für ihre Kinder sorgt, so waren wir euch zugetan und wollten euch nicht nur am Evangelium Gottes teilhaben lassen, sondern auch an unserem eigenen Leben, denn ihr wart uns sehr lieb geworden“ (1 Thess 2,8b und 9). Es ist, genaugenommen, die stillende Mutter an dieser letzten Stelle angesprochen. Der andere Akzent bei Paulus gegenüber dem Vaterbild ist, bei aller Nähe, zu spüren, vor allem in der Stelle aus dem Galaterbrief: Christus im Nächsten, sein Leben will erlitten, es will ausgetragen und geborgen, gehegt werden (vgl. Gal 4,13f.) Die andere Art der Aktivität, die im Mütterlichen liegt und die sowenig von der Zerrform des Bemuttems her zu bemessen ist wie die Väterlichkeit vom Paternalismus her, bedarf unserer Aufmerksamkeit, wenn es um die geistliche „Registrierung“ des Organons priesterlichen Dienstes als Dasein für den Menschen geht. Hintergrund sein, Raum sein – ich möchte den Sprung in eine andere theologische Ebene der Betrachtung wagen –, „Maria“ sein gehört zu unserem Dienst am Menschen hinzu. Im Kontext des erwähnten Zusammenseins mit Mitbrüdem hielten wir einmal unsere Betrachtung über die Lauretanische Litanei. Was wird da nicht alles von Maria gesagt! Sie ist Zuflucht der Sünder und Heil der Kranken; sie ist Turm der Stärke und Gefäß voll des Geistes; sie ist kluge und mächtige Jungfrau; von ihr erwartet das Gebet den Frieden; in ihr faßt es die Berufung und die Herrlichkeit aller Heiligen zusammen. Ist das alles nur Projektion, nur fromme Phantasie? Haben nicht vielmehr die Menschen Erfahrungen mit Maria ausdrücken wollen? Einem von uns fiel auf: So, wie wir eigentlich sein sollten oder wie wenigstens die Leute von uns erwarten, daß wir seien, begegnet uns in dieser Litanei Maria. Wir wissen doch [159] oft genug nicht ein und aus vor den Ansprüchen und Erwartungen, die auf uns einstürmen. Was sollen wir nicht alles sein? Helfer in ausweglosen Ehesituationen; Ratgeber in Fragen von Beruf und Berufung; Experte für theologische Probleme; Organisator und Koordinator der Zusammenarbeit; Versöhner zwischen zerstrittenen Parteien oder Mitarbeitern; Animator zu mehr ehrenamtlichem Dienst; überzeugender Verkündiger; akkurater Verwaltungsfachmann – und Zeit haben, Zeit haben für jeden; keinen abschmettem mit einer raschen Antwort; nie aus dem Gleichgewicht geraten. Aber wie soll das gehen? Man müßte geradezu eine andere Maria sein, nach Maß und Zuschnitt der Lauretanischen Litanei. Aber vielleicht – so fiel uns auf – liegt hier in der Tat der Ansatz zu einer Lösung: eine andere Maria. Wir sprachen doch die Vermutung aus, daß hinter den Anrufungen der Lauretanischen Litanei Erfahrungen stehen, die Menschen mit Maria machten. Solche Erfahrungen waren indessen eher leise. Maria, die in der himmlischen Herrlichkeit bei ihrem Sohne Verweilende, blieb durchaus im diskreten Hintergrund. Aber wieso ging und geht dann eine solche Wirkung von ihr aus? Vielleicht gerade deshalb, weil sie nicht erst jetzt im Hintergrund bleibt, sondern auch in der Zeit ihres Lebens hier in unseren irdischen Verhältnissen lebendiger „Hintergrund“ war. Sie hat ganz einfach ihr Herz für den Ruf Gottes geöffnet, sie hat ihr Ja gesagt und ist, Augenblick für Augenblick, ihren Weg gegangen, den Weg im Hintergrund, den Weg des Dienens, des Daseins. Sie hörte zu, sie bewahrte, sie begleitete. Sie hat auch Fragen gestellt und Bitten formuliert und ist dabei in die Situation geraten, nicht zu verstehen und abgewiesen, ins zweite Glied, auf die Wartebank geschoben zu werden. Und dies durchaus von ihrem eigenen Sohn. Aber sie ist weitergegangen; und sie hat ausgehalten, ist geblieben auch unter dem Kreuz: stabat. Und vom Kreuz und von [160] Ostern ist sie nochmals weitergegangen in den Saal des Pfingstwunders, eine mit vielen und unter vielen. Doch der Glaube hat gewußt: In ihr ist das Ja der Menschheit ganz da, und dieses ganze Ja, es ist Schale, die sich hinhält, die empfangt und weitergibt. Und so ist sie, die im Augenblick Gottes lebte, die das Ja der Annahme je neu sprach, die das Wort durchtrug, eben Mutter der Barmherzigkeit, Heil der Kranken und Zuflucht der Sünder, Königin der Apostel und des Friedens, Mutter für uns alle und lebendiges Bild der Kirche geworden. Hier liegt ein Impuls für unseren priesterlichen Dienst. Im Dasein, im stillen Begleiten, im Aushalten unter dem Kreuz auch des Nächsten, dem wir unmittelbar nicht helfen können, wächst uns etwas zu von dieser Mütterlichkeit Mariens, die allen alles wird, die Christus im ändern wachsen läßt, nicht so sehr durch vielerlei Tun als einfach eben durch Sein. Vielleicht suchen die Menschen auch in uns nicht den, der direkt und handgreiflich alles das „machen“ und „lösen“ kann, was sie an Aufgaben und Problemen mitbringen, vielleicht suchen sie in uns weit eher: Maria. Ihr Platz unter dem Kreuz, der vom Jünger geteilt wurde, welchen Jesus liebte, ist die andere „Lesart“ jenes Ortes, den wir von ihrem Sohn, von Jesus Christus her bestimmt hatten. Sind es nur vier Bilder, die unverbunden nebeneinanderstehen, wenn wir da sprachen vom Sklaven, vom Hirten, vom Vater und von der Mutter als Grundgestalten unseres Daseins für den Menschen? Was sich uns an jeder der vier Gestalten zeigte, setzt diese jedenfalls in eine innere Beziehung zueinander. So unterschiedlich die Akzente sind, so parallel ist doch der Gang des Weges, den uns diese Gestalten weisen. Immer ist es der Herr selber, der das Entscheidende tut, der uns in die Pflicht nimmt, der das Maß setzt und den Weg weist durch seine Kreuzeshingabe. Jedesmal ist von uns verlangt, uns ganz zu geben und ganz zurückzunehmen. Jedes-[161]mal ist es dieselbe Liebe, deren Macht sich gerade in der Selbstentäußerung vollendet. Die Demut des Sklaven und die Hoheit des Hirten spiegeln dieselbe Liebe desselben Christus. Hirt und Sklave, zwei biblische Christusbilder. Im Sohn, in Jesus Christus, aber geht der Vater selber auf und will seine Väterlichkeit auch in uns zur Geltung bringen. Von uns aus sind wir nur Leere, nur Nichts, die aber, vom Geist befruchtet, mütterlich den Herrn empfangen, austragen und weitergeben. Der Sklave, der Hirt, der Vater, die Mutter, sie weisen uns in denselben geistlichen Standort, sie weisen uns an sein österliches Kreuz.