Das Heilige und das Denken

Die neue Eindeutigkeit des verdankenden Denkens

Verdankendes Denken faßt das nicht, dem es sich verdankt, es verweist nur, und doch lebt in solchem Verweis eine ihm eigene Deutlichkeit, ja Eindeutigkeit.

Fassendes Denken läßt die zwingende Kontrolle, die grundsätzliche Beliebigkeit der Wiederholung seines Griffes zu, es „verfügt“ ja über das, was es faßt und begreift, insoweit dieses sich fassen und begreifen läßt. Der zwingende Charakter dieses Denkens haftet gerade an der im Verfügenkönnen beschlossenen Beliebigkeit. Diese beruht darauf, daß vom Denken bewältigt, umgriffen ist, was dieses da sei. Das Umgreifen des Was gibt dem Denken die [34] Möglichkeit, zumindest in selbst denkender Reproduktion, dieses Was je neu in sein Daß, in seine Präsenz vor sich hin und zu sich her zu stellen. Die vorstellende Kraft des Denkens – jene, die aus dem Umgreifen des Was dessen Daß sich selbst zuzustellen vermag – ist selbst das „Warum“, welches ein solches Was in sein Daß zwingt und zwingend auch sein Daß ans zugehörige Was bindet.

Das Was des vorstellend Umfaßten und Eingeordneten würde in der letzten Konsequenz (die bezeichnenderweise faktisch nicht einzuholen, sondern nur als Grenzmodell per impossibile entworfen ist) zur „Zahl“,1 zum fixierenden Stellenwert innerhalb einer universalen Gleichwertigkeit und Gleichgültigkeit. Das Wesen sinkt dann entweder ins Unvergewisserbare und Uninteressante ab, so daß nicht mehr nach ihm gefragt, an seine Stelle nur das Zählbare des Seienden gesetzt wird, oder diese Zählbarkeit selbst erhebt sich in den Rang des ganzen Wesens, erschöpft das, als was etwas sich zeigt und also – ist. Der Akt des Sich-Zeigens, das Zum-Vorschein-Kommen: das Daß, wird zu dem aus zählender Verfügung Bemächtigten, entweder derart, daß nur das als wirklich wahr-genommen wird, was sich zählendem Zugriff gibt, oder derart, daß dieser zählende Zugriff aus seinem Bescheidwissen über die quantitativen Verhältnisse das wirkliche Vor- und Herauskommen, die Faktizität produzierend bewerkstelligt. Das Warum zieht seinen Sinn und seine Reichweite entsprechend zusammen auf die Bewerkstelligung, auf die zahlhafte Verknüpfung eines Angezielten mit den Bedingungen, die sein Herauskommen erzwingen.

Fassendes Denken hat seine Eindeutigkeit also aus dem Subjekt. Von ihm her wird festgestellt, als was das, was ist, sich zeigen und vorkommen könne. Das, was ist, ist und ist, was es ist, aus den Bedingungen heraus, unter denen es sich vom Subjekt fassen läßt. Diese Bedingungen sind selbst dem Subjekt zwar unbeliebig, geben [35] aber das, was unter ihnen erscheint und sich herstellen läßt, ins überlegene Belieben des Subjektes.

Fassendes Denken führt, für sich allein genommen, in eine eigentümliche und doppelte Zweideutigkeit zurück: Zunächst ist es mächtig, über das, was ist, zu verfügen, es sich verfüglich zu machen. Doch diese Macht, das, was ist, zu zwingen, und die Strukturen dieses Zwingens sind ihm selbst zwingend verfügt. Seine Macht ist ihm also auferlegt, ist sich selbst entzogen. Darin erwächst dem fassenden Denken die zweite Doppeldeutigkeit: Es weiß sich so organisiert, daß es kraft dieser Organisation das, was ist, für sich erbeutet. Gerade das macht es aber gegen sich mißtrauisch: Ist fassend zwingendes Denken im Grunde nicht mit sich allein? Ist sein Haben dessen, was ist, im Haben, im Verfügen nicht zugleich ein Verfremden? Entgeht seinem Fassen dessen, was ist, nicht gerade die Weise, wie dieses von sich her ist? Und auf letztere kommt es dem Denken doch an. Die vordergründige Eindeutigkeit des Fassens ist letztlich nur dessen sicher, was von ihrer Fassenskraft schon im voraus umfaßt ist, sie faßt also je nur – sich selbst.

Die Gegenmöglichkeit gegen solche Einsamkeit des Denkens mit sich selbst ist das verdankende Denken. Auch es hat „etwas“ in der Hand, sein Umfaßtes ist dasselbe Umfaßte wie das des fassenden Denkens. Aber es faßt es als ihm gelassen, und so ist sein Fassen nicht bloß Fassen, sondern Verweis über sich hinaus. Was verdankendes Denken in der Hand hat, ist nicht in sich das „Was“ dessen, dem sein Danken gilt, sondern das Denk-Mal seiner im faßbaren Etwas nicht zu erschöpfenden und festzulegenden Gewähr.

Sie geschieht in der Gabe des Etwas, also an einer Stelle, an einem Ort innerhalb der faßbaren Tatbestände dessen, was ist, und des Lebens des die Zueignung denkend wahrnehmenden Selbst. Es ist nicht unmöglich, diese Stelle in den Zusammenhang des Faßbaren hinein- und aus ihm herauszurechnen, sie physiologisch, soziologisch und psychologisch also zu „erklären“. Die Zueignung selbst ist darin keineswegs erklärt. Sie stimmt je das [36] Denken im Ganzen und somit den Raum, den das Denken umfaßt, den universalen Raum dessen, was ist, im Ganzen von dieser bestimmten Stelle aus in eine neue Grundweise hinein. Die „Stelle“ ist Denkmal der Zueignung, Hinweis auf ihr unfaßbares, nicht zu ortendes, sondern selbst das Denken in seine neue „Stimmung“ zeitigendes Geschehen. Viele Stellen des Seienden und Stellungen des Selbst, grundsätzlich alle Bestände dessen, was ist, können die Stätte solchen Geschehens sein. Als seine Stätte sind sie aber der Beliebigkeit des verfügenden und zwingenden Denkens entnommen, ausgesondert und selbst wiederum zugeeignet dem je unverfüglichen „Einmal“ des nur von sich her sich Zueignenden, nur in der nicht herstellenden, sondern wahrenden Erinnerung das Denken geleitend, nicht von ihm und seiner Kraft her reproduzierend ins neue Daß zu zwingen. Verdankendes Denken „zählt“ nicht, sondern es „er-zählt“,2 bezeugt im Bericht dessen, was sich begab, nicht die faßbaren Bestände, sondern das ihnen je Entgehende und in ihnen sich doch Zueignende.

Im verdankenden Denken wird aus den unzähligen Stellen der möglichen Zueignung die eine nicht zwingend hergeleitet und nicht beliebig ausgewählt, sondern eben verdankend erzählt, an der sich die Zueignung wirklich begab, und diese Stelle und das Wort, das auf sie weist, werden so eindeutig als deutend und bedeutsam. Vielfältig kann das Unerzwingbare aufgehen, aber gerade so ist es aufgegangen, darin nicht nur sich selbst eindeutig bezeugend, sondern auch das Zeichen des Zeugnisses erhebend in eine neue und andere Weise bedeutsamer Eindeutigkeit, bestimmten Hinweises auf das dem Zugriff je Entzogene.

Die Eindeutigkeit, die „etwas“ fürs zwingende Denken hat, ist die Eindeutigkeit des Was oder, verkürzt, der „Zahl“, die das, was ist, hineingreifen in das je zugleich gegenwärtige Gesamt des Seienden, in den alle Orte offen umspannenden, dem Hinblick [37] und Zugriff präsentierenden „Raum“. Die Eindeutigkeit, die etwas im verdankenden Denken erhält als Denkmal und Gabe seiner Gewähr, ist hingegen gerade nicht die des Was und also nicht die der umfassend-präsentischen Räumlichkeit, sondern die der Zeitigung: in diesem bestimmten Etwas spricht sich mir die gewährend unsägliche Huld zu, sie hat mir dieses, gerade dieses und dieses gerade damals zugeeignet, so tritt dieses bestimmte Etwas nicht hinein in seine allgemeine Verfüglichkeit durch den washaften Begriff, sondern aus ihr heraus in sein nur zu erzählendes Einmal, in dem sich das zeitigende Einmal der gewährenden Huld zugleich öffnet und verbirgt. Verdankendes Denken kennt nicht den geometrisch durchgängig gleichen, an allen Stellen gleich-gültigen Raum, sondern den je unversehens gezeitigten, den Raum als „Landschaft“. Zeit ist ihm entsprechend nicht sich räumlich verzeichnende, ins Gleichmaß ihr Je und Einmal einebnende, sondern die geschichtliche, „zeitliche“ Zeit.

Im Kontext verdankenden Denkens erhält so die Frage danach, was etwas sei, einen anderen Sinn. Sie ist nicht mehr damit abzugelten, daß je „dieses da“ auf seinen eingereihten und daher wesentlich „allgemeinen“ Platz im Ganzen dessen, was sein kann, bezogen wird, sondern weist in den Zusammenhang der Zeitigung, in die Geschichte von Gewähr und Empfangen, Schenken und Schulden. Sie ist das Umgreifende des je einzelnen Etwas, umgreifend aber nicht als einreihend, sondern als je aussondernd und freigebend. Nicht durch seinen Stellenwert im gleichgültig-durchgängigen Ganzen ist das einzelne Etwas bestimmt, sondern durch die „Stimmung“, die es ins Zugehören zu der es zeitigenden Gewähr stimmt – schärfster Gegensatz zu der bis auf die quantitative Zahl sich zusammenziehenden Wesenheit des Etwas im bloß fassenden Denken.3

[38] Wo Denken sich selber hell ist als der Raum, der alles, was ist, umfaßt und in dieser Helle sich überfragt ins Verdanken hinein, wo also nicht nur etwas, sondern das Denken selbst zum Denk-Mal seiner Zeitigung wird, erreicht der Gegensatz der verweisenden Eindeutigkeit verdankenden Denkens zur zwingenden Eindeutigkeit fassenden Denkens seinen eigenen Grund im Denken.

Fassendes Denken ist eindeutig aus den zwingenden Strukturen des Subjektes heraus, in denen ihm alles, denen aber auch es selbst unterworfen ist, so daß es diesseits seines Fassens in die genannte Zweideutigkeit gerät. Dem verdankenden Denken, das alles und sich selbst in der radikalen Anfrage über sich hinausläßt, wird gerade das, was das fassende Denken in die Zweideutigkeit führt, zum Anlaß seiner verweisenden Eindeutigkeit. Auch es, ja gerade es weiß keine Erklärung, warum es überhaupt denke, auch ihm ist sein Denken das zutiefst nicht nur Eigene, sondern mehr noch Andere, Zugekommene. Die Frage: Warum denke ich? weist jede Antwort von sich ab. Dieser Abweis setzt das fassende Denken, wie gezeigt, ins Mißtrauen, ins Bewußtsein seiner Einsamkeit mit sich. Diese Einsamkeit löscht die Eindeutigkeit aus, die nur „gerichtet“, von sich weg, auf andere seiner selbst zu – hier also: aufs Seiende zu – statthat. Die Unerklärlichkeit seiner selbst, das Sichzugekommensein ist fürs verdankende Denken hingegen der Durchbruch aus der Einsamkeit hinweg, verdankend weiß Denken sich als Antwort, in seiner Freiheit aus Freiheit sich geschenkt, so nicht allein, und darum gerade eindeutig, eindeutig aber nicht mehr auf die Weise des das, was ist unter sich zwingenden Fassens, sondern auf die freie Weise des Verweises.


  1. Es sei hier erinnert an die Idee der „mathesis universalis“, wie sie sich grundlegend artikuliert bei Descartes, René: Regulae ad directionem ingenii, Regula IV. ↩︎

  2. Vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Die Weltalter. Fragmente. hg. v. Manfred Schröter, München 1946, bes. 3f., 111f., und Rosenzweig, Franz: Das neue Denken, in: Kleinere Schriften, Berlin 1937. ↩︎

  3. Pascals „esprit de finesse“ weist in seinem Gegensatz zum „esprit de géométrie“ (vgl. Pensées, ed. Brunschvicg, Frgm. 1) in die Nähe dieser Unterscheidung zwischen dem Was des fassenden und dem Was des verdankenden Denkens, das freilich je nur als solches, d. h. in der unerzwingbaren Einstimmung des offenen Empfangens und Verdankens, das stimmende Was seines begegnenden Etwas entdeckt. ↩︎