Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Die Potenzen als Gottes Mächtigkeit in Religions- und Heilsgeschichte

a) Schellings Grundriß
Mit der Erschaffung des urständlichen Menschen sind die Beziehung Gottes zu seinem Anderen und die Geschichte Gottes mit seinem Anderen gerade nicht abgeschlossen, und sie setzen sich auch nicht fort bloß in Erhaltung und Regierung seiner Welt1. Der entscheidende Akt ihrer Fortsetzung liegt zunächst beim Menschen, bei sei- [282] ner Erhebung zu sich selbst, bei seinem Fall. Wie wir bereits wiederholt zu sehen Anlaß hatten, ist dieser Fall, im Hinblick auf die Potenzen gesagt, der Versuch der Bemächtigung der ersten Potenz durch den Menschen, der Versuch, was sein kann, als das von ihm Vermochte zu verstehen, das empfangend-verdankende Verhältnis zur universalen Möglichkeit ins Verhältnis selbstsetzenden Verfügens zu verkehren.

Trinitarisch gesprochen heißt dies, daß „sich aber der Mensch auf diese Weise zwischen den Vater und den Sohn eindrängte, indem er der den Sohn zeugenden Potenz (der väterlichen) sich bemächtigte“2. Nicht mehr Gott „darf“ bestimmen, wie es „sein muß“ mit dem, was sein kann, nicht mehr vom Vater her wird die Grenze, das begrenzend-verfügende Walten (der Sohn) über das, was ist, angenommen, es wird durch den Menschen verfügt: Ich will, daß es so und so sei.

In diesem verkehrenden, sich zu sich erhebenden Akt verknotet sich nun ein vierfacher Prozeß der Potenzen3.

Zwei Seiten dieses Prozesses traten bereits in unser Interesse: Auf seiten des Menschen beobachteten wir das Entstehen des subjektiven Idealismus, der Weltsetzung aus dem Ich, die doch nach dem Muster des vorgängigen, unverfüglichen Wirkens der Potenzen erfolgt4 ; sie erfolgt aber als Setzung aus dem Ich des Menschen her als Setzung einer Welt, „die, von ihrer wahren Zukunft abgeschnitten, vergeblich ihr Ende sucht, und jene falsche, bloß scheinbare Zeit erzeugend, in trauriger Einförmigkeit nur immer sich selbst wiederholt“5.

Hiermit ist die zweite Seite dieses Prozesses berührt, die uns ebenfalls bekannt ist: der Versuch der Selbstmacht des Menschen ist das Offenbarwerden seiner Ohnmacht, sein Gericht durchs Gesetz6, das Sich-Vollstrecken der Unbezwingbarkeit der Potenzen als ursprünglich von Gott her seiender Mächte.

Diesen beiden Seiten desselben Prozesses gesellen sich nun aber zwei weitere zu, die eine als „theologischer Kontext“ des im Men- [283] schen, die andere als „theologischer Kontext“ des von Gott her aufgrund des Falles Geschehenden, die erste als Prozeß der Religions-, die andere als Prozeß der Heilsgeschichte.

In der Bemächtigung der Urmöglichkeit, der ersten Potenz, durch den Menschen „hat er eben damit den Sohn von dem Vater getrennt, und den Sohn, der ihm einwohnend sich ganz in ihm verwirklicht hatte, in seine Gewalt bekommen, und ebenso den Geist an sich gerissen. Dies konnte aber nicht geschehen, ohne daß das Göttliche sich aus ihnen zurückzog, sie waren für den Menschen und im Verhältnis zu dem im menschlichen Bewußtsein wieder erregten Prinzip nur noch Potenzen. Der Mensch hatte also nur noch ein Verhältnis zu diesen, d. h. zu dem zertrennten Gott, dem zertrennten All-Einen, und wie zuvor – im noch nicht bewegten, rein wesentlichen Bewußtsein – der Monotheismus, so ist ihm jetzt der Polytheismus natürlich.“7

Gott, der – auf der Außenseite des Schöpfungsprozesses – in den Potenzen als wirkenden Mächten „von sich weg“, in der Verstellung und Verbergung seiner selbst präsent war, wirkte dort doch zugleich auf sich, auf sein Sich-Einholen und auf sein Erscheinen im Menschen hin. Indem nun aber der Mensch sein Ich als Prinzip der Potenzen zu setzen, von sich her mit ihnen zu wirken versucht, setzt er Gott und das Göttliche in den Potenzen von sich her aufs neue und radikaler in die Verstellung und Verbergung. Gleichwohl ist das „Reelle“ in den Potenzen auch hier noch das, was Gott ist. Nur sind die Potenzen, indem sie nicht von ihm, sondern vom Ich her verstanden und gehandhabt werden, zertrennt, ist so Gott selbst in ihnen als „zertrennter“ präsent.

Das heißt: Das Woraufhin des Wirkens der Potenzen, ihre Einigkeit in Gott, der sich darin selbst als eins vollbringt, ist verborgen, tritt nicht mehr in Sicht, und so tritt Gottes Einheit selbst nicht in Sicht. Die Einheit Gottes, die im Sinne des Monotheismus8 Einheit in der Mehrheit von Potenzen war, verbirgt sich nun in der Vielheit der Potenzen, deren unbeugbare Macht übers sie beherrschen wollende menschliche Bewußtsein sich in diesem als „Polytheismus“ auswirkt.

Dieser ist nach solchem Ansatz nichts Willkürliches, sondern ein von der verselbständigten, das menschliche Bewußtsein ek-statisch sprengenden Übermacht der ersten Potenz her ausgelöster Prozeß, der mythologische Prozeß, dem Schelling so nachdrückliche Mühe der Konstruktion und Deutung widmete. Seine Ableitungen können hier nicht berührt, wohl aber muß seine Bedeutung genannt werden9. Er ist Prozeß bloß im Bewußtsein, „denn in diesem ist die Spannung, dieses ist aus der Einheit gesetzt, und um das Bewußtsein ist es in der ganzen Schöpfung zu tun – dieses also muß durch einen zweiten, dem ursprünglichen analogen Prozeß wieder geheilt und hergestellt werden“10. Er ist gleichwohl objektiver Prozeß, etwas, das mit dem Bewußtsein vorgeht und es verändert, er ist das Sich-Wiedereinholen der – in Gott unzerstörbaren – Einheit Gottes aus den „Elementen“ des Göttlichen fürs Bewußtsein. Als „bloß natürlicher“ Prozeß, „von dem die Gottheit sogar ausgeschlossen ist“, ist er doch ein „theogonischer Gott (im Bewußtsein) erzeugender zu nennen“11.

Diese immanente Heilung des Bewußtseins geschieht auf andere Weise, ebenfalls nur vorläufig-immanent, ohnmächtig des nicht vom Menschen her wirkbaren Heils, diesem aber die Begriffe bereitend, als Einung der getrennten Elemente im Bewußtsein, im Geschehen der Philosophie als transzendentalen Idealismus12.

Wieso ist aber – dies bleibt zu fragen – nicht Atheismus, sondern Polytheismus die konkrete Folge des menschlichen Falles, des menschlichen „Als-Gott“-Seinwollens13 in seine Geschichte hinein? Wieso ist sein Produkt nicht bloße Zerstörung des menschlichen Bewußtseins, sondern seine Erhaltung und die Anbahnung seiner Wiederherstellung? Religionsgeschichte – auch für die Philosophie darf dies gelten – weist zurück in die Heilsgeschichte. Gott will das Bewußtsein nach wie vor. Die erregte erste Potenz bleibt beim Menschen als göttlicher „Un-wille“. Dieser bedeutet aber gerade nicht, daß Gott die Welt und den Menschen nicht will, sondern daß Gott sie so nicht wollen kann14.

[285] Heilsgeschichte gründet im bleibenden Wollen der Welt und des Menschen durch Gott. „Allerdings also hätte es in der Macht des Vaters gestanden, nachdem das Sein ihm durch den Menschen entfremdet worden, … das Sein überhaupt, das ganze Sein zurückzunehmen, aber vielmehr hätte er dann gleich die Schöpfung nicht gewollt, das Zurücknehmen ist nicht Gottes Art, sondern nur das Hinausführen.“15

Die Struktur des bleibenden Willens Gottes zur Welt ist geleitet von der Hinaussicht auf den Sohn als den Gottes Göttlichkeit, Gottes Herrschaft übers Sein, Gottes göttliches Selbstsein Wiederbringenden, Wiederherstellenden16.

Die Bemächtigung der ersten Potenz durch den Menschen, die vollzogene Bestreitung der Gottheit Gottes in dem also, was das „Organ“ der Göttlichkeit schlechthin ist, bedeutet eine neue „Potentialisierung“ der Potenzen, die den Rang und die Macht göttlicher Persönlichkeiten im Ende der Schöpfung in der Ordnung der Wirklichkeit erreicht hatten. Bleibt auch die Personalität, das Verhältnis des Sohnes und Geistes zur die Personalität konstituierenden Möglichkeit des Anderen erhalten, so ist diesem Verhältnis doch die unbestrittene, offenbare Mächtigkeit genommen, das Verhältnis des Sohnes – und entsprechend des Geistes – zu ihr ist kein göttliches mehr, der Sohn ist „aufs neue – in einer zweiten, durch den Menschen verursachten Umkehrung – seiner Herrlichkeit entsetzt17, und das heißt: in der Ordnung der „Wirklichkeit“ nicht mehr „Gott“.

Es liegt nun zwar in der „Logik“ des Geschehens, entspricht dem Willen Gottes, der in der Schöpfung als solcher verlautet, daß der Sohn die Beziehung zur verkehrten, vom Menschen bestreitend an sich gerissenen, Gott entfremdeten ersten Potenz behält, „um dieses Prinzip zu überwinden und zu versöhnen, so daß das Verhältnis zu Gott als Vater hergestellt werde“18.

Darin geschieht aber mehr, als was geschehen muß. Gott bliebe an sich Gott und Herr auch, wenn das gefallene Sein vernichtet oder der Selbstaufzehrung anheimgegeben würde, Überwindung des Widerspruchs der Kreatur durch Aushalten des Widerspruchs, [286] durch Heilung „von innen“ ist ein das abstrakt Notwendige übersteigender Entschluß. Auf ihn kann, auch in Schellings Sinn, nicht philosophische Deduktion aufmerksam werden, er ist aus der Offenbarung entgegenzunehmen, entgegenzunehmen aber fürs Denken, er tritt aus theologischer Herkunft wieder hinein in den Gesichtskreis der Philosophie. Es ist Tat, Entschluß des Sohnes, sich in die Außergöttlichkeit zu begeben und die geschichtliche „Heilung des Bewußtseins“ im mythologischen Prozeß zu begleiten, ja sie durch solches Begleiten erst zu ermöglichen.

Die ganze Zeit dieser Welt ist „Zeit des Sohnes“19 : Nachdem die Schöpfung sich in der Selbstsetzung des Menschen aus Gott heraus- und in ihr freies Eigensein hineingesetzt hat, ist der Vater als solcher vom Geschehen der Welt getrennt, das Wirken-Müssende, Beziehung-Haltende zum erhobenen Selbstsein ist unmittelbar nur mehr die zweite Potenz, der Sohn. Das Wirken des Sohnes in der Welt extra Deum, als Korrelat auf die von Gott getrennte erste Potenz, geschieht unmittelbar, in seinem welthaften Aspekt, von sich her, nicht von Gott her, vom Sohn als selbständiger, von Gott getrennter Persönlichkeit aus.

Der Vorgang der Rückbringung der außer sich geratenen ersten Potenz ins An-sich ist, wenn einmal durch Gottes die getrennte Welt sein lassenden Willen angestoßen, natural, notwendig. Das Wirken des Sohnes ist Wirken des Wirkenmüssenden, Wirken der zweiten Potenz, und so eigentlich Leiden, etwas, was mit dem Sohn geschieht. Er ist der „leidende Gottesknecht“ vom Anfang der Welt, d.h. von der Selbsterhebung des Ich an20.

Durch den Prozeß der „natürlichen Religion21 d. h. des Heidentums, der Mythologie, restituiert sich die bestrittene zweite Potenz, will sagen: die ins Außergöttliche hineingegangene, von Gott selbständige zweite Persönlichkeit zu sich selbst und so zu ihrer Freiheit22. Behält der Sohn nun seine gottgestaltige Herrlichkeit, d. h. seine natural wiedergewonnene Mächtigkeit über die verselbständigte Welt für sich, oder gibt er sie dem Vater anheim, um im [287] Gehorsam gegen ihn und von ihm her in seine trinitarisch göttliche Herrlichkeit eingesetzt zu werden? Diese Frage bietet Schelling den Hintergrund des Verständnisses der Christologie des Philipperbrief-Hymnus23 : Der zum Tod bereite und in der Auferweckung mit der wahrhaft göttlichen Herrschaft und für die Welt mit dem göttlichen Heil gekrönte Gehorsam Jesu gibt Antwort auf die Frage und ist im Verständnis Schellings Achse der Welt-, und das heißt für ihn auch: der Heilsgeschichte.

Der Prozeß der Potenzen ist von Schelling her also angesetzt als Prozeß, der aus dem gefallenen menschlichen Bewußtsein aufgeht, der zugleich mit ihm vorgeht und in dem sich doch Gottes Heilsratschluß von sich her auf ihn einläßt, so das „Gericht“ innerhalb seiner eigenen Struktur umwertend zum „Heil“.

b) „Theologische“ Bedeutung für unser Denken
Das aufs äußerste verkürzte Referat der religionsgeschichtlichen und offenbarungsgeschichtlichen „theologischen“ Seite des Prozesses der Potenzen in der positiven Philosophie stellt die Eigenwillgkeit und Befremdlichkeit der Weise vor Augen, wie Schelling hier auf die Daten der Geschichte und der christlichen Theologie hindenkt. Die Fragwürdigkeit seines Ansatzes scheint sich hier zu bestätigen und zu vollstrecken.

Wieso konnten wir aber sagen, daß gerade hier das Denken Schellings sich dem nähere, was es denken will, daß der Ansatz seines Gedankens hier also eine Möglichkeit entberge, sein Gemeintes einzuholen?

Das Etwasdenken, so zeigte sich, versagt im Denken personaler Beziehung, versagt so zumal im Versuch, den göttlichen Gott zu denken. und doch vermögen die Strukturen des Etwasdenkens, die sich in Schellings Potenzenlehre verfassen, theologisch relevant zu werden. Diese Relevanz soll nicht in einer Einzelanalyse der Aussagen Schellings, sondern in einer selbständigen Reflexion aus unserem Mitdenken mit ihm gewonnen werden. Dieses Mitdenken ist von dem, was es mitdenkt, aufgefordert, dieses in seinem nicht mehr [288] nur philosophischen Stellenwert zu sehen; die genuine Weise theologischen Denkens, welches Offenbarung als Offenbarung nimmt, also annimmt, darf hier ohne weitere methodische Vorüberlegung ins Spiel kommen.

Die Reflexion auf Schellings vorgestellte Aussage knüpft bei dem einen, wichtigen Motiv des dargelegten Gedankens an, das in den Potenzen die wirksame Verborgenheit und das verborgene Wirken Gottes in der von ihm getrennten Welt erblickt und in ihren sachlich-gegenständlichen Strukturen die Entfremdung und Entfernung Gottes vom menschlichen Bewußtsein und zugleich die bleibende Zuwendung seiner Liebe zu ihm vorstellt. Dieses Motiv lösen wir heraus aus dem Kontext der Anwendungen, in denen Schelling es gebraucht, und die im einzelnen freilich teilweise philosophisch künstlich und theologisch irreführend wirken.

Wir formalisieren die Aussage über die Potenzen als die Gott verbergenden und zugleich wieder-gebenden Etwas-Mächte der Welt und des Denkens im von Gott getrennten Bewußtsein in drei Stufen:

  1. Gottes Verborgenheit im Bewußtsein wird in ihnen offenbar, sie sind, für sich allein genommen, die Selbstauslegung eines Bewußtseins, das alleinig ist, von sich ausgeht, sich will. – Diese Stellung erkennt Schelling ihnen zu in der Situation der faktischen Welt.

  2. Sie sind so nicht aus sich selbst lesbar auf Gott hin, nicht von sich her seine Epiphanie, und sind doch in ihrem Selbstgeschehen ein Sich-Halten und -Bewahren des Bewußtsein im Sein, letztlich in der Gabe, die Gott gewährt, auch wenn sie nicht als Gabe verstanden und offen wird. Der Prozeß des Bewußtseins, der sie ausbildet und ihnen gemäß sachgerecht seine Welt ausbildet, ist Prozeß einer „Treue im Widerspruch“.

  3. Die Treue im Widerspruch, die „objektiv“, sich selbst entwandt und „unbewußt“, in ihnen als Treue des Menschen geschieht, ist zuvor und grundlegend „Treue im Widerspruch“ von seiten Gottes, ist seine „Geduld“, ist Gottes Aushalten der sich behauptenden Welt. Seine „leidende“, will sagen: sich verschweigende Nähe zur Welt manifestiert sich in ihnen, sie sind sein Mitgehen mit der Welt und so das mögliche Medium seines Anspruches und seiner Anrede an sie, die freilich das Ich des Menschen so übers Etwas hinaus ins [289] Du ruft. Nicht daß diese Strukturen ursprünglich von Gott als Medium seiner Nähe verfügt und „entworfen“ wären, vielmehr vermag die „Abstraktion“ von Gott, in der sie vom Menschen aus entworfen sind, die Kommunikation Gottes nicht aufzuhalten, die in ihnen eben als Schweigen, Geduld, „Passion“ geschieht.

Zwar liegt gemäß der immanenten „Logik“ der von Schelling entworfenen Potenzenlehre in der zweiten Potenz, der des Seins, das wirken muß, wo es bestritten ist, und darin eben das Bestreitende aus-hält, eine systematische Ermöglichung des hier Gewahrten. Doch gerade dies erscheint bezeichnend: Schellings Gedanke trifft das Personale dort, wo dieses in der Bestreitung zum Wogegen, zum Wider- und Gegenstand gemacht wird, indem er diese Gegenständlichkeit als Medium der Entäußerung, des Sich-Lassens der Freiheit, des Wegseins von sich in ihr Anderes versteht.

Solange und soweit Schelling in den Potenzen positiv die Konstitution des göttlichen Gottes zu denken sucht, entgeht — so scheint es unserem Mitdenken — seinem Gedanken gerade der göttliche Gott. Wo er im selben Medium die Verfremdung und Verbergung Gottes zu denken sucht und sie, das Sich-Lassen als Möglichkeit vollzogenen göttlichen Selbstseins ansetzt, da berührt er den Aufgang des göttlichen Gottes. Gottes Möglichkeit zum Andern, das Wegsein seiner Möglichkeit von ihm selbst, die Entfremdung „seiner“ Möglichkeit durch sein Anderes, die ihm zur „Möglichkeit“ seiner Geduld mit dem Anderen und seines Geleites des Anderen in der Verfremdung wird: das führt das Denken in die Nähe des unverfüglich aus sich selbst aufgehenden, göttlichen Gottes.

Das Denken unterbreitet diese „Möglichkeit“ Gottes, die Möglichkeit seiner Geduld nicht von sich aus, nicht aus seiner eigenen Mächtigkeit heraus Gott, so daß er darin Gott „würde“. Das Denken muß zuerst von seiner Entfremdung von Gott hinweg selbst betroffen sein, also von Gott selbst betroffen sein, um dieser Möglichkeit innezuwerden. Das Denken, das sie weiß, verdankt, erhofft, erbittet sie also, ist selbst von sich „weg“, ist schon in der Beziehung, in welcher Gott aufgeht.

Gerade deshalb darf das Denken, das den göttlichen Gott zu denken sucht, sich von sich her, in der philosophischen Besinnung auf sich selbst, nicht in seine bloße Gegenständlichkeit und Alleinig- [290] keit, nicht ins Etwasdenken verschließen. Gerade deshalb also war unser Mitdenken immer wieder zur „Kritik“ an Schellings Ansatz gehalten, zum Hinblick auf ein „anderes“ als das seine eigenen Möglichkeiten und somit je etwas und darin sich selbst entwerfende Denken.

Diese „Kritik“ greift freilich über Schellings Gedanken hinaus.

Dieser spiegelt, durch das seine Herkunft überbietende Bemühen ums Denken von Freiheit und Geschichtlichkeit einerseits und durch seine diese Herkunft vollendende Radikalität als Mitvollzug des Sich-Denkens des Denkens selbst anderseits, besonders deutlich einen Grundzug, der viele große Gedanken abendländisch-metaphysischer Tradition zeichnet: sie begreifen, nicht der Intention, aber den Mitteln ihrer Durchführung nach, Gott und sein Offenbartes ein in das genannte, seine eigenen Möglichkeiten ausdenkende, so aber alleinige, der Beziehung also gerade nicht mächtige Denken.

Sind diese Gedanken zu Gott und dem Göttlichen, die im Medium des von Gegenständlichkeit und Selbstgegenständlichkeit bestimmten Denkens formuliert sind, dann aber ein bloßes Verfehlen ihres Gemeinten?

Dann jedenfalls nicht, wenn dieses Medium selbst von dem her verstanden wird, was die von uns zuletzt mitgegangene Strecke der Spätphilosophie Schellings erschließen kann: Auch ein vom „Etwas“, ein von der sich selbst und alles fassen wollenden Grundtendenz der Vergegenständlichung bestimmtes Denken ist mögliche Weise, nicht wie der Mensch sich von sich her dem Du und dem Geheimnis zu nähern vermag – das gerade nicht, aber wie Gott den Menschen „auszuhalten“ und sich von sich her ihm zu nähern vermag. Allerdings gerät solches Denken, sobald es inne wird, daß in ihm Gott und sein Wort beim Menschen aushält, von selbst über sich hinaus, in die Stellung sich lassenden Verweises und sich übersteigender Anrede, die Strukturen gegenständlichen Fassens treten in ihren „medialen“ Rang zurück.

Wo das Denken als die Näherung und Geduld Gottes, wo das Tiefste seiner Wahrheit als die Treue Gottes zu seinem Anderen aufgeht, da ist das Denken von sich her gerufen, auf die Begrenztheit seiner Weise als gegenständlich fassendes Denken zu achten [291] und sich in die immanente Pluralität seiner selbst, in seine eigene Geschichtlichkeit freizugeben. Es wird darin und gerade darin in seine Universalität und in seine „Tauglichkeit“ für die Wahrheit gelangen, wird geschichtlich neue Weisen seines Grund- und Selbstverständnisses aus sich hervorbringen.

Werden sie „besser“, „angemessener“ sein als die verlassenen?
Ja: im Sinne der Unbeliebigkeit geschichtlicher, unablösbar geschehender Verpflichtung des Denkens auf die Wahrheit. Es ist vom Offenbarwerden der Grenze einer Hinsicht her eindeutig, daß das Denken sie überprüfen und überholen muß, und es kann eindeutig werden, in welcher Richtung dies zu geschehen hat. In solchem Weitergang des Denkens darf dieses aber gerade nicht vermeinen, „das“ Denken werden, der verborgenen und unversehenen Begrenzung seiner selbst entraten zu können.

Das Ja auf die Frage, ob die neuen Weisen des Denkens „besser“ sein könnten als die verlassenen, ist nur ein Fragment der Antwort. Dieses wird aber auch noch nicht zur ganzen Antwort durch das komplementäre Nein eines Denkens, das der unentgehbaren und je verborgenen Endlichkeit seiner Weisen bewußt ist. Ja und nein werden vereint und eindeutig im Hören, im immer offeneren Hören auf die vielen Weisen des Denkens. Sie sind Weisen eines Gespräches, das „von unten“ her, von der Vollmacht derer her, die es führen, und das heißt: das als Philosophie unabschließbar und so doch in seinem Weitergang Zeugnis einer ihn – vielleicht verschwiegen – leitenden Hoffnung aufs Andere seiner selbst ist.

Doch dieses Gespräch und somit auch die Weisen des Denkens in ihm haben noch eine andere Dimension: die theologische. Wenn die Weisen menschlichen Denkens, die im Hinblick auf die Wahrheit in Ernst und Klarheit ihrer selbst gedacht sind, als Weisen der „Geduld“ Gottes, seiner ausharrenden Treue und Zuneigung in die menschliche Geschichte hinein, als mögliche Medien des Aus- und Weitersagens seiner Zusage, seiner Offenbarung also gelten dürfen, dann ist das Verstehen und Hören dieser Weisen aufeinanderzu, ihr vollbrachtes Zusammengehören ins Gespräch menschliches Mittun der Geduld Gottes, ist es der Anteil des Denkens an der stellvertretend in einem Geschick das Geschick aller mittragenden und bestehenden Liebe. Dann ist also die philosophische Dimension der [292] Theologie ihr zubestimmt als Gemeinschaft mit dem „Gottesknecht“, der die Last der Vielen in der seinen und als die seine austrägt, als Übersetzung alles menschlichen Denkens ins eine Wort Gottes und dieses einen Wortes Gottes in alles menschliche Denken.

Es fällt von unserem Nachdenken, das sich von Schellings Gedanken zur Bedeutung der Potenzenlehre nachdenklich machen ließ, ein Licht aufs Zusammengehören von Theologie und Philosophie. Denken, Gestalten des Denkens als die Weisen der Treue Gottes zum Menschen in der Verborgenheit Gottes für den Menschen zu verstehen – diese Deutung des Denkens ist nicht mehr philosophisch, sie ist theologisch, gewiß.

Wenn Gott sich dazu entschließt, sich selbst als Gericht und Heil in die menschliche, aus sich allein heil-lose Geschichte hineinzusagen, so läßt er diesem seinem Sich-Sagen die geschichtlichen, endlichen Weisen des menschlichen Sagens gefallen. Der in der Schrift und in ihren Aussageschichten gerade heute so offenkundige Übersetzungsvorgang derselben Botschaft in mannigfache Theologien aufgrund mannigfacher Medien des Denkens, Vorstellens und Sich-Ausdrückens bestätigt dies positiv. Der theologischen Reflexion, dem zu verstehen bemühten Andenken erschließt sich die Konvenienz dieses Befundes: Gottes Wort geht alle Menschen an, ist an alle gerichtet, spricht also hin zu allen menschlich-geschichtlichen Grundweisen, Wahrheit zu denken, und spricht in sie hinein. Es tut dies, nicht um sie gleichgültig auf- oder abzuwerten, sondern um sie auf den An- und Zuspruch der Offenbarung hin zu öffnen und zu richten und sie füreinander zu öffnen und aufeinanderzu zu richten, damit sie in der Gemeinschaft der einen Liebe des begnadenden Gottes selbst zum Gespräch werden, in dessen Mitte diese Liebe, in dessen Mitte der Herr selbst seine geschichtliche Präsenz hat, der dort zu sein verheißt, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind24.

Wir sind so aus theologischem Anlaß auf die Geschichtlichkeit des Denkens gestoßen. Wir stießen damit aber aufs selbe wie unser unmittelbar philosophischer Gedanke des Mitdenkens am Anfang unserer Untersuchung. Der Anstoß zur Freigabe des Denkens an [293] seine Unabschließbarkeit und zum Mut des Denkens, in seiner je geschichtlichen Gestalt auf die anderen Gestalten zu achten und zu hören, ist genuin und radikal philosophisch, kommt aus der Besinnung des Denkens auf seine innere Endlichkeit. Er ist zugleich der theologische Anruf, Gottes in Jesus ereignete und offenbarte Liebe mitzutun, die in der Endlichkeit allen menschlichen Denkens dieses je anzunehmen und anzureden gewillt ist. Dieser theologische Anruf ist nichts zusätzlich zur Theologie, sondern sie selbst als die Lichtung der offenbarenden Tat Gottes ins menschliche Denken hinein. Dann aber gehören in einem seiner Geschichtlichkeit achtenden Denken Philosophie und christliche Theologie in einer neuen Weise souveräner Partnerschaft und dienend freier Verwiesenheit zusammen.

Es darf uns an dieser thematisch letzten Station unserer Untersuchung auffallen, daß sie einerseits zum Entgegengesetzten des Anfangs führt, von der rein philosophisch angesetzten Frage nach dem Denken zu einer nur theologisch auszuweisenden Antwort, daß anderseits sie am Ende zum Anfang zurückführt: sie begann mit dem Bedenken des Mitdenkens, der Gemeinschaft des Denkens und mündet in ein neues Bedenken desselben ein.


  1. Zu dieser siehe z. B. XIII 305/6. ↩︎

  2. XIII 367. ↩︎

  3. Zum Ganzen s. bes. XIII 350–381, 349–354. ↩︎

  4. Vgl. hierzu XIII 352 u. 353. ↩︎

  5. XIII 352. ↩︎

  6. S. XI 554–556. ↩︎

  7. XIII 367/68. ↩︎

  8. Vgl. bes. XII 66/67, 102–107, XIII 367/68. ↩︎

  9. Vgl. hierzu bes. XIII 377–381. ↩︎

  10. XIII 369. ↩︎

  11. Ebd. ↩︎

  12. Vgl. XIII 364. ↩︎

  13. Vgl. XIII 357, 349. ↩︎

  14. Vgl. XIII 372. ↩︎

  15. XIII 373. ↩︎

  16. S. ebd. ↩︎

  17. Ebd. ↩︎

  18. Ebd. ↩︎

  19. XIII 375. ↩︎

  20. Vgl. XIII 375–377. ↩︎

  21. Vgl. XIII 185–193, XI 244–250. ↩︎

  22. Vgl. XIII 377. ↩︎

  23. Ph 2, 6–11; s. bes. XIV 35–45. ↩︎

  24. Mt 18, 20. ↩︎