Propädeutische Überlegungen zur Glaubensvermittlung

Die Sache ist die Methode*

„He episteme ta episteta pos estin – Die Wissenschaft ist gewissermaßen das zu Wissende“1. Diese Aussage des Aristoteles scheint mir die grundlegende Antwort auf unsere Frage zu sein: Was heißt Vermittlung? Dies wird noch deutlicher, wenn wir zugespitzt formulieren: Die Sache ist die Methode; das meint: Die einzig gültige Methode ist die Sache selbst. Methode heißt ja Weg, Zugang. Aristoteles sagt nun, wir können nicht von irgendwoher einen Zugang zu einer Sache suchen, sondern die Sache selbst muß ihren Zugang gewähren, muß sich uns vermitteln. Die knappe Auskunft des Philosophen gilt es zu entfalten.

Diese philosophische Reflexion ist hochbedeutsam für unseren Kontext, die Sache des Glaubens. Es wäre nämlich ein Irrtum zu meinen, man könne Theologie in sich treiben und die Methode der Vermittlung nachträglich und unabhängig von den theologischen Inhalten entwickeln. Droht da nicht entweder die Auflösung der Sache in Methode, weil die Verständlichkeit zum Maß des Sprechens erklärt wird, oder der Tod aller methodischen Bemühungen, weil das fertige System ewiger Wahrheiten neue Fragen nicht zuläßt? Ein Vergleich mit der Christologie mag das Gesagte erhellen. In der alten Kirche gab es die nestorianische Irrlehre, die, vergröbernd gesprochen, Gottheit und Menschheit Jesu nebeneinander stellte und nur äußerlich miteinander verband. Und es gab, wiederum vergröbernd gesprochen, die monophysitische Irrlehre, die die Menschheit Jesu in seine Gottheit auflöste, während zuvor und hernach in umgekehrter Richtung die Auflösung der Gottheit Jesu in seine Menschheit eine Versuchung der Theologie war. „Ungetrennt und unvermischt“ sind Gottheit und Menschheit in Jesus Christus eins, so die Formel des Konzils von Chalkedon im Jahre 451. Für die „Sache“, das göttliche Leben, so folgern wir, ist offenkundig der „Weg“ nicht gleichgültig, auf dem die „Sache“ zu uns kommt: die Annahme der Menschheit, und zwar ungetrennt und unvermischt eins mit der Gottheit. Die Formel von Chalkedon gilt analog ebenso für Sache und Methode des Glaubens, für Vermittlung und Lehre der Theologie.

So sehr die Sache die Methode ist, die Sache die Vermittlung ist, so wenig herrscht doch platte Identität zwischen beiden. Indem die Sache sich vermittelt, wird sie gewissermaßen mehr sie selbst. Sie geht in einem neuen Licht auf, gewinnt neue Aspekte, sie kommt zum Leuchten. Die Sache überbietet sich, indem sie sich vermittelt. Andererseits unterbietet sie sich aber auch. Es gibt nämlich keinen Vermittlungsversuch, über den hinaus nicht weitere Versuche möglich und sinnvoll wären, keine Vermittlung ein für allemal, weil keine Gestalt die Größe und Fülle der Sache ausschöpft. Selbst nach einer meisterhaften Interpretation eines Musikstückes, die ungeahnte [102] Möglichkeiten in ihm freisetzte, wäre es töricht, es nie mehr spielen zu wollen; denn ein wirkliches Kunstwerk übersteigt alle Möglichkeiten seiner Interpretation und läßt immer noch neue offen. Auch nach der großartigsten Predigt über ein Evangelium, auch nach der Dogmatisierung einer Glaubenswahrheit bleibt es möglich, ja notwendig weiterzusprechen und weiterzudenken. Es ist selbst ein Dogma, formuliert 1215 im IV. Laterankonzil, daß jede Glaubensaussage, auch ein Dogma, mehr sagt, wie Gott nicht ist als wie Gott ist, weil jede Gestalt ihn unterbietet. Das Dogma ist mehr, aber zugleich und erst recht weit weniger als seine Grundlagen im Evangelium. Das sagt nichts gegen die Endgültigkeit von Dogmen, wie die Endgültigkeit einer Eheschließung hoffentlich auch nicht Ende der Geschichte einer Liebe, sondern Anfang ist.

Gerade das Sinnbild der Ehe gibt uns das Stichwort, das uns noch einen entscheidenden Schritt weiterführt. Was veranlaßt einen Menschen, ja Gott selber, sich auf einen Prozeß einzulassen, der unweigerlich Unterbietung bedeutet? Offenbar treibt ihn die Liebe dazu. Warum sonst sollte Gott auf den Menschen zugehen, sich ihm gar ausliefern trotz der Gewißheit, daß der Mensch Gott nie wird einholen können, ihn notwendig unterbieten muß? Der Mensch ist Gott soviel wert, daß er sich ihm geben, sich ihm mitteilen will, und solches Absteigen verrät gerade das Größte an ihm, offenbart Ihn als Liebe.

Ich halte die grundsätzliche Frage nach der Vermittlung deshalb für so aktuell, weil sie uns über fatale Engführungen eines bloß deduktiven und eines bloß induktiven Ansatzes in der Glaubensvermittlung hinausführt. Entgeht dem bloß deduktiven Ansatz die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit, so dem bloß induktiven Ansatz die Einheit des Vielgestaltigen. Doch lassen wir vorerst noch den Kontext des Glaubens ausgeblendet und versuchen, grundsätzlich zu klären, was Vermittlung heißt.


  1. Aristoteles: Peri psyches – Über die Seele, 432b 22. ↩︎