Musik als Liturgie – Liturgie als Musik

Die Schlüsselfunktion der Musik

Der Hunger nach der eigenen Herkunft und Vergangenheit, das Erfahrenwollen eines heilen und erfüllenden Ganzen, das Gestaltenwollen und Sich-Einbringenwollen, so daß die Feier des Ganzen mich selbst und mein Leben enthalte und identifiziere: diese Impulse haben ihr Recht und ihre Notwendigkeit; sie werden zur Engführung nur, wo sie absolut gesetzt, wo sie nicht von innen her zur Synthese verbunden werden. Es wird überdeutlich, daß es sich bei der Liturgie nicht nur um einen „Sektor“ unseres religiösen und kirchlichen Betriebes handelt, sondern daß hier die Frage nach dem Menschen und nach der Glaubwürdigkeit der Erlösungsbotschaft für den Menschen heute angesprochen ist. Musik als Liturgie, Liturgie als Musik auszulegen, wird so zu mehr als einer interessanten Spielerei. Es tritt eine Aufgabe und eine Chance zutage: Kann in der Kultur einer integralen musikalischen Erfahrung nicht jenes Ineinander eingeübt werden, das den Menschen menschlich und „liturgiefähig“ werden läßt Und muß Liturgie sich nicht andauernd daran bemessen, ob sie jene Konsonanz plausibel macht, die ihr eigenes Wesen ist?

Drei die Liturgie als Sonderbereich übersteigende Aussagen –von Papst Johannes Paul II., von Augustinus und von Bonaventura – können hier eine Orientierung geben. Immer wieder spielt Papst Johannes Paul II. auf einen Konzilssatz an, und er macht ihn zu einem der tragenden Pfeiler auch seiner ersten Enzyklika: Der Sohn Gottes hat durch seine Menschwerdung sich gleichsam mit jedem Menschen verbunden.1 Die Konsonanz Jesu mit der Menschheit leben, das Ganze und auch die Vergangenheit und die Zukunft in Jesus Christus finden, mit ihm allein da sein und so mit allen und für alle da sein, dies kann in der Tat zum existentiellen Einstieg in die Voraussetzungen von Liturgie werden. So wird sich in der Liturgie erfüllen, was für Verkündigung und Katechese der Papst als Maßstab aufgestellt hat: daß der Mensch sich selbst wiederfinden können solle in Jesus Christus.2 Sich finden, indem er das Ganze findet.

Dies ist freilich mehr als eine bloß katechetische oder Verkündigungsaufgabe. Es ist ein Lebensweg, der zur Liturgie hinführt. Augustin markiert ihn durch die Entsprechung zwischen dem Canticum novum, dem neuen Lied, das die Erlösten singen werden, mit dem Testamentum novum, dem Neuen Bund und so mit dem Mandatum novum, dem neuen Gebot, das uns Jesus gibt, dem Gebot, uns gegenseitig zu lieben, wie er uns geliebt hat.3 Das Musikalische der Liturgie gelingt nur in jener Kraft, die unser Leben überhaupt zum Klingen bringt, die uns da sein und in Einklang mit Gottes Willen treten läßt: in der Liebe, wie Jesus geliebt hat. Jene Liturgie, die noch so perfekt klappt, wird tot bleiben, wird nichts zum Klingen bringen, wenn sie nicht den inneren Zusammenklang, die innere Verbundenheit durch das Eine und den Einen, der die Liebe ist, zum Ausdruck bringt. Nur Liebe macht liturgiefähig. Nur sie erzeugt und erschließt jenen anderen, neuen Klang, den das Leben und den die Welt als ganze in Jesus Christus erhält.

Solche Liebe hat ihre Voraussetzung und ihre Konsequenz. In unüberbietbarer Prägnanz hat Bonaventura in seinem Hexaemeron diesen Zusammenhang beschrieben. Er spricht von der Kirche, die gegründet ist auf Gottes Wort. Dieses Wort ist die lex, das Gesetz, das, was den Ton angibt. Indem alle sich nach diesem einen Wort richten und es leben, entsteht die pax, der Friede, die Konsonanz aller mit allen im gelebten Leben. Das eine Wort lebt nicht mehr nur in sich, lebt nicht mehr nur in der Reaktion des einzelnen, sondern im Zusammenklang der Herzen und des Lebens der Vielen. Hier aber, in der pax, im Miteinander, in der Gegenseitigkeit kann das gelebte Wort nicht verschlossen bleiben, es bricht aus innerer Dynamik von hier her auf zur laus, zum Lob Gottes, in welchem das Wort Gottes zu Gott zurückkehrt, bereichert durch diesen Prozeß der Weltwerdung und Kirchenwerdung. Gelebtes Wort und [23] gelebte Liebe als Voraussetzung für Liturgie, aber auch als notwendiges Drängen hin zur Liturgie, das ist die „Aussage der Aussage“, daß Liturgie Musik und Musik Liturgie sei.4


  1. Vgl. GS 2; Johannes Paul II.: Enzyklika Redemptor Hominis, 13. ↩︎

  2. Vgl. Johannes Paul II.: Enzyklika Redeptor Hominis, 10. ↩︎

  3. Vgl. Augustinus: Sermo 34; Augustinus: Ennarationes in psalmos, Ps. 32, sermo 1,7. ↩︎

  4. Vgl. Bonaventura: Hexaemeron, I, 3-5. ↩︎