Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Die Schwierigkeit des Verständnisses

Der Gang unseres Mitdenkens mit Schellings Spätphilosophie, in welchem wir ihre Weise und ihr Verständnis des Denkens zu ermitteln suchen, hat eines bislang ausgespart: das Gedachte dieses Denkens in seiner Inhaltlichkeit. Vorverständnis, Ansatz, Programm, Zusammensetzung und Methode des Denkens traten bereits in den Blick — abgehoben von seiner materialen Entwicklung konnten sie schärfer das Eigentümliche solchen Philosophierens freilegen, das sonst leicht im sachlichen Mitvollzug des Gedankens verschwunden wäre. Umgekehrt läßt erst die Sichtung der Landschaft und der Bahnen des Denkens deutlich werden, was sein – keineswegs an sich selbst dem Verständnis Eindeutigkeit aufdrängender – Inhalt denn bedeute.

Und was ist dieser Inhalt des Denkens? Die formale Antwort darauf ist uns bekannt: das Seiende. Die Formalität solcher Antwort und das aus ihr bereits Entborgene lassen uns noch die Frage übrig, als was das Seiende sich dem Zuschauen des Denkens in Schellings Verständnis zeige, welches die Bestimmungen seien, in denen das reine Denken das Seiende stufenweise und sich zum Ganzen ergänzend als Prädikat des Prinzips setzt, und welches die Verwandlung alsdann sei, die diesen Bestimmungen bzw. Elementen in den Operationen negativer und positiver Philosophie widerfahre. Wir sind also gehalten, den gesamten Weg der Spätphilosophie, den wir als Weg des Denkens in seine mediale Ursprünglichkeit und als Weg des Denkens durch seine drei Ebenen gingen, nochmals zu gehen, jetzt aber als Weg des Sich-Erbildens und Sich-Verwandelns des [157] Inhaltes der Vernunft, konkret: der drei universalen und erschöpfenden Grundbegriffe des Denkens, in denen jeder Gedanke, d. h. aber alles, was ist, und alles, was geschieht, sich lichtet und aus denen jeder Gedanke und alles schlechthin allererst zu sich selbst erwächst.

Das hierzu von Schelling Ausgeführte trägt gängig den Namen der „Potenzenlehre“, der Lehre von den drei Potenzen. Wir gebrauchen dieses Wort als Chiffre für den komplexen und in solcher Bezeichnung keineswegs umgriffenen Sachverhalt, haben dabei aber nur die Potenzenlehre der Spätphilosophie im Auge, nicht die anderen Gedankenfiguren und -folgen, die in früheren Epochen Schellings als Potenzen und Potenzreihen begegnen.

Der Vorblick auf den Gegenstand der Potenzenlehre zeigt sofort ihre zentrale Stellung in der Spätphilosophie. Gleichwohl ist sie ihr der Deutung gegenüber widerständigster Gehalt. Die Texte Schellings hierzu in den Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie und der Offenbarung sind zwar ausführlich und auch keineswegs undeutlich, die je verschiedene Stelle im Gefüge der Gesamtentwicklung erklärt zudem hinlänglich die differenten Bezeichnungen, Perspektiven und Aussagen. Was sie aber schwierig macht, ist wohl ein Dreifaches:

a) Schelling stellt dem Mitdenken jeweils mehr vor als das, was seine Begründungen und Ableitungen entwickeln; die einzelnen „Potenzen“ nehmen in seinem Denken einen plastischen Charakter, eine lebendige [sic!] Eigenprägung an, die jeder von ihnen aus der Fülle und Verwandtschaft ihrer Funktionen im Ganzen zuwächst. Sie werden so „Persönlichkeiten“ vergleichbar, die zwar im Augenblick nur dies oder jenes tun, die aber in ihre augenblickliche Funktion je mehr hineinnehmen, als was die Analyse dieser Funktion hergibt – eben sich selbst. Der vertraute Umgang Schellings mit „seinen“ Potenzen erfordert so auch vom Mitdenken eine über den einzelnen Gedankengang hinausreichende „συνουσία“. Das gibt uns die methodische Anweisung, mehr auf Schellings einzelne Texte zu als nur von ihnen aus zu interpretieren. Ansonsten entständen [sic!] uns zwar richtige Ableitungen des Gedankens, die jedoch hinter dem lebendig Gedachten zurückblieben, oder aber „Porträts“ der Potenzen, welche die Strenge des sie zeichnenden und mit ihnen arbeitenden Gedankens vermissen ließen.

[158] b) Dieselbe Vertrautheit Schellings mit den Potenzen, die sie „reicher“ erscheinen läßt als ihre systematische Ein- und Durchführung, hat zugleich eine entgegengesetzte Folge: er kann mit ihnen formal operieren, ohne jedesmal vorzuweisen, was an ihnen selbst ihm das Recht zu solcher Operation gibt. So entstehen formal jeweils analoge Gedankenabläufe, die leicht fürs Mitdenken reproduzierbar sind, ohne daß durch ihre gedankentechnische „Beherrschung“ das Verständnis des Gemeinten geklärt wäre. Dem Mitdenken wird entsprechend dringlicher die Frage nach der Bedeutung als die bloße Nachzeichnung der formalen Strukturen abgefordert.

c) Grundlegender aber ist die Schwierigkeit, die das eigentlich Gedachte des Schellingschen Gedankens einem unmittelbaren Zugang zur Potenzenlehre in den Weg legt: Wieso sind gerade diese Begriffe der dem Denken identische Inhalt seiner selbst? Würde irgendein Denkender nach dem Grundinhalt oder den Urbegriffen des Denkens gefragt, so stände die Vermutung seiner Antwort wohl nicht für das, was Schelling als solches vorschlägt. Diese Schwierigkeit entfällt jedoch, wenn geklärt ist, daß das Denken im Sinne Schellings in diesen Potenzen das Seiende als universales Wesen, als Inbegriff aller Prädikate und darin doch als Prädikat des einzigen unbedingten dieses Seiende seienden Prinzips setzt. Wenn Denken dieses ist: die konstitutiven Elemente der Gegenständlichkeit (die freilich auch Selbständigkeit bedeutet) zu setzen, um aus ihnen alsdann alles und die Beziehung von allem zu allem zu konstruieren, dann ist Gestalt, Gehalt und Folge der „Potenzen“ in Schellings Spätphilosophie weder beliebig noch abseitig.

Es kommt also entscheidend darauf an, die Potenzenlehre aus dem Gesamtansatz des Denkens in Schellings Spätphilosophie heraus zu verstehen. ,Das Denken setzt die Potenze‘, heißt nichts anderes als: das Denken setzt seine eigene mediale Ursprünglichkeit, und nochmals nichts anderes als: das Denken setzt das Seiende. Dies muß deutlich gesehen werden.