Unterscheidungen

Die Schwierigkeit des Zugangs zur Religion*

Wir pflegen unsere Welt in verschiedene Bereiche einzuteilen. Diesen Bereichen zählen wir bestimmte Gegenstände zu, diesen Gegenständen entsprechen verschiedene Tätigkeiten, Bedürfnisse, Vorkommnisse und Regeln. Bereiche, die einmal sehr wichtig waren, können im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung zurücktreten, andere tauchen, wie aus dem Nichts heraus, auf. Um ein Beispiel zu gebrauchen: ein solcher Bereich, der heute in die Mitte unseres Daseins gerückt ist, heißt Verkehr. Dazu gehören Autos, Straßen, Eisenbahnen, Verkehrszeichen, Führerschein, Polizei. Sieht man aber näher zu, dann zeigt sich: Verkehr ist nicht nur ein Bereich; fast alles hat mit dem Verkehr zu tun, beispielsweise eine Prozession, beispielsweise die Landschaft, die „staubfrei“ erhalten werden soll. Da durch den Verkehr die Kommunikation in allen Lebensbereichen aufrechterhalten wird, spielen im Verkehr alle Lebensbereiche und spielt für sie der Verkehr eine Rolle.

Einer der Bereiche, die es beispielsweise heute viel schwerer haben, sich im zentralen Feld unseres Bewußtseins durchzuhalten, ist die Religion. Warum eigentlich? Man kann zwei Antworten darauf geben, die beide zutreffen. Einmal sind die hauptsächlichen „Gegenstände“ der Religion vielen fragwürdig geworden. Gottes Wirklichkeit scheint nicht so selbstverständlich evident zu sein – oder aber dieser Gott ist weit weg. Gebet scheint nicht viel an der Wirklichkeit zu ändern – oder aber es fällt uns ungemein schwer zu beten. Der andere Grund: die Kommunikation zwischen dem Bereich Religion und den anderen Bereichen unseres Daseins ist nicht eben stark. Gebete, die die Situation der Arbeit oder des Ver- [55] kehrs dem lieben Gott anheimgeben, erscheinen etwas künstlich oder banal, Gottesdienste ohne aktuellen Bezug wiederum sind ohne funktionalen Nutzen und auch von geringem Entspannungswert. Dabei ist von der Sache selbst her ohne weiteres ersichtlich, daß gerade Religion nicht nur ein säuberlich abgegrenzter Bezirk neben anderen Bezirken sein kann. Wenn Gott Gott ist, dann geht ihn natürlich alles an, und umgekehrt sind Gottesbilder nicht nur Sachen der Theologen oder der Priester, sondern auch der Psychologen, Soziologen, Historiker, Künstler – kurzum das, worin sich Religion objektiviert und was sie zum Inhalt hat, läßt sich auf die tausend Betrachtungsweisen mitbetrachten, wie das Leben überhaupt eben angesehen werden kann.

Die schwierige Frage ist nun die des Zusammenhangs. Sie ist hier nicht „religionspädagogisch“, sondern fundamental gemeint: Wie kann Religion sich als real erweisen? Hier gibt es grundsätzlich zwei Zugänge: Entweder man belegt die Realität ihrer „Sache": Erweis der Existenz Gottes, der Glaubwürdigkeit der Offenbarungszeugnisse und der Kirche, oder aber der Vollzug der lebendigen Beziehung zu Gott erweist als solcher seine „Realität“, gelebte Religion wird von innen her zum Zeugnis dessen, was in ihr lebt.

Man wird auf keinen dieser beiden Wege einfachhin verzichten können, sie lassen sich aber auch nicht nur addieren: ein bißchen Theorie, ein bißchen lebendiges Zeugnis. Noch weniger lassen sie sich isolieren. Zwei Mißverständnisse jedenfalls müssen abgewehrt werden: Wer mit Argumenten den anderen so weit gebracht hat, daß er gegen die Existenz Gottes und die Gültigkeit des Christentums nichts mehr einzuwenden weiß, hat dadurch noch nicht die Religion oder den Glauben erzeugt. Das ist sogar eine theologische Aussage. Glaubwürdigkeitsgründe, ja Gründe, die den Glauben als unausweichlich dartun, sind nicht der Grund, auf dem geschehender Glaube beruht. Allgemeiner gewendet: Wo bei Menschen die Religion in die Krise gerät oder wo sie absinkt in ihrem Leben, ist es keineswegs immer der Fall, daß an der Existenz Gottes oder an der Wahrheit des Christentums gezweifelt wird. Der Gedankengang: Wenn Gott Gott ist, dann hängt doch alles davon ab, ihn auch [56] Gott sein zu lassen, seinen Willen also zu tun, verschlägt faktisch nicht ohne weiteres. Umgekehrt aber ist der Verweis aufs lebendige Zeugnis kein „Irrationalismus“, keine Kapitulation davor, daß es mit kritischem Intellekt angeblich nicht möglich sei, Sinn und Berechtigung der Religion darzutun.

Gerade an diesem Punkt setzt unsere Bemühung zur Unterscheidung des Religiösen ein. Sie wendet sich nicht primär dem „Gegenstand“, dem „Inhalt“ der Religion zu, sondern ihrem Vollzug. Sie will diesen Vollzug aber in seiner eigentümlichen Gestalt, sie will ihn als eine sich aus sich selbst erhellende Grundweise menschlichen Daseins, menschlichen Sich-Transzendierens aufzeigen und gegen andere Grundweisen menschlichen Vollzugs abgrenzen. Damit ist nichts „bewiesen“. Und doch kann zweierlei so geleistet werden: Einmal kann aufgezeigt werden, daß alle Versuche, den religiösen Vollzug auf seine psychologischen, gesellschaftlichen, geschichtlichen Komponenten zu reduzieren, an der genuinen Eigengestalt des Religiösen vorbeizielen. Zum anderen tritt die grundsätzliche Offenheit fürs religiöse Zeugnis als Implikat intellektueller Redlichkeit, als reale Chance, der Wahrheit zu begegnen, zutage. Das Zeugnis selbst muß freilich gegeben und vernommen werden – und das ist in dieser hinführenden Erwägung nicht zu leisten.