Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Die Selbstauslegung des absoluten Daß als absoluten Geistes
Der Weg, den die 12. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung begeht, läßt sich in folgender Weise zusammenfassen:
In der 10. und 11. Vorlesung hatte Schelling den Begriff dessen, was vor dem Sein ist, entwickelt, die Potenzen als hypothetischen Vorgriff des möglichen Seins. Er erzeugt hier ihren Inhalt und Zusammenhang aus dem Denken derart, daß die Leistung des reinen Denkens und der negativen Philosophie noch ineinsfallen (die scharfe Scheidung beider Denkprozesse führt er dann in der später gelesenen philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie durch): Die Potenzen werden also in der Hinaussicht auf mögliches Sein ursprünglich an sich selbst vom Denken gewonnen; sie ergeben hypothetisch als den Grund der Möglichkeit – ebenfalls hypothetischen – künftigen Seins den Begriff des „Geistes“, der „Allheit“, die „der vollendete, in sich selbst beschlossene Geist“ ist1. Inhaltlich entspricht dies dem Begriff des im Subjekt-Objekt zur Geistigkeit abgeschlossenen Seienden, der als Ende reinen Denkens und in der Exposition der Ursachen möglichen Seins in der negativen Philosophie in den genannten späteren Vorlesungen begegnet.
Der absolute Geist als hypothetische Voraussetzung möglichen Seins bietet nun dem Gedanken Schellings die Wendung zur positiven Philosophie, welche vom absoluten Geist her und also zu- [241] nächst diesen selbst in sich selbst zu denken hat Sie hat ihn aber, das ist das Unterscheidende der positiven Philosophie, als wirklichen zu denken. Der Übergang hierzu läßt sich in folgende Schritte formalisieren:
Wenn etwas ist, dann hat es zur Voraussetzung die Potenzen als Vorgriffe auf solches, das sein kann. Darin ist aber eingeschlossen:
a) als Grund für diese These die Einsicht, daß das Sein von etwas Vernünftigkeit als solche einschließt; denn das „ist“ kann nur vom Denken her gesagt werden – ohne lichtende Vernunft als die Quelle der Möglichkeit und somit des Wesens dessen, was ist, gibt es kein mögliches erfahrbares Sein; b) als unmittelbare Folge der Potenzen in sich ihre Konvergenz zum einen Wesen von Geistigkeit; die Potenzen sind, was Geist ist und implizieren also den Geist, der sie ist. Wenn und sofern die Potenzen sind, ist in ihnen der Geist (nicht als νοῦς im Gegensatz zur Seele, sondern als absoluter Geist) gedacht. „Wenn ein vernünftiges Sein ist oder sein soll, so muß ich jenen Geist voraussetzen.“2
„Nun steht freilich alles wirkliche Sein vielem Zweifel bloß.“3 Dieser Zweifel, diese letzte Unsicherheit des empirischen Seins, hat zwei Seiten: a) Empirisches Sein muß nicht sein, es kann von der Vernunft a priori nur hypothetisch gesetzt werden: „Wenn ein Sein entsteht, so kann es nur in jener Folge entstehen. Aber warum entsteht denn ein Sein?“4 b) Das empirisch gefundene Sein widersteht an sich selbst nicht der Bezweifelbarkeit durch die Vernunft5, indem sie sich befragend an es wendet, findet sie – sich, es ist, seinem Wasgehalt nach, in die Setzung der Vernunft hinein aufzulösen, trägt ihre Bestimmung an sich. Die Vernunft bleibt also angesichts seiner mit sich allein und gerät so in ihre eigene Fraglichkeit. Sie kann sich selbst nicht tragen und begründen: „warum ist denn Vernunft und nicht Unvernunft?“6
Genauer besehen, ist aber der Zweifel selbst – wir begegneten [242] dem bereits – „Zeugnis“ von Sein überhaupt, die Fraglichkeit des Seins und der Vernunft selbst ist Wissen ums „wahre Wirkliche“; denn nur aus solchem vorgängigen Wissen läßt sich das bestimmte Sein be -fragen und kann die Vernunft selbst er -fragen, ob dieses auch wahrhaft wirklich sei7.
Die Fraglichkeit des empirischen Seins und der Vernunft selbst bringt diese darauf, daß das wahre Wirkliche ist, daß es aber ist als die Voraussetzung des empirischen Seins und der in diesem selbst bereits vorausgesetzten Vernunft.
Daraus resultieren zwei zunächst verschieden erscheinende, aber zur Koinzidenz drängende Auskünfte auf die Frage, was das wahre Wirkliche sei:
a) es ist das reine Daß, ist jenes, was gerade nicht bloße Vernunft und also auch nicht ihr mit ihr identischer Inhalt (das Seiende, die Potenzen) ist; b) es ist jenes, was sie (die Potenzen) ist; denn die Voraussetzung dessen, was von der bloßen Vernunft her hypothetisch und bezweifelbar ist, aber so eben doch nach Ausweis der Vernunft sein kann, sind die Potenzen. Oder umgekehrt gesagt: Indem die Vernunft das reine Daß als ihr Prius findet, findet sie sich als sein Posterius, als seine Auslegung. So aber findet sie das absolute Daß nicht als nur verschlossene apriorische Faktizität, sondern als Geist, als selbstgehörig, als das seiend, was die Potenzen sind.
Dann sind die Potenzen freilich primär nicht mehr zu denken als jenes, was Vorgriff auf künftiges Sein bedeutet. Das absolute Daß, das unzweifelhaft Wirkliche ist der absolute Geist: diese Aussage erfordert, das zwar zu denken, was in den Potenzen gedacht ist – denn das absolute Daß ist Geist, sein Wesen ist die in den Potenzen beschlossene Selbstgehörigkeit; sie erfordert aber, es nicht als Hinblick auf künftiges Sein, sondern als die Gestalt eben reiner Selbstgehörigkeit, reiner Absolutheit, Gelöstheit von jedem notwendigen Bezug über sich hinaus zu denken8.
„Im absoluten Geist müssen sich allerdings auch alle Potenzen des der Erklärung bedürftigen Seins finden, aber er wird sie nicht unmittelbar als Potenzen dieses Seins, sondern als Bestimmungen [243] seiner selbst, seines eigenen Seins enthalten; nur mittelbar können sie sich als Potenzen des von ihm verschiedenen Seins darstellen. Sie sind in ihm nicht als transitive, sondern als immanente Bestimmungen, nicht in der Hinauswendung (gegen ein zukünftiges mögliches sein), sondern in der Hineinwendung und daher nicht als ein Anderes von ihm, sondern als Er selbst.“9
Hier ist nun die Stelle, wo der zuvor unmittelbar als Auslegung und Selbstauslegung des absoluten Daß im Denken erhobene Befund in Schellings eigene Gedankenführung eintritt: der absolute Geist als an sich, für sich, bei sich seiend10.