Unterscheidungen
Die Selbstüberschreitung der transzendentalen Grundakte*
In dieser Dialektik kommt die innere Grenze der isoliert gesehenen Grundakte zum Vorschein. Im theoretischen Verhalten erscheint nur das, was zwingend ist, wie es ist. Ist aber das „Zwingende“ wahrhaft das, was ist? Ästhetisch läßt sich auch der Ernst, läßt sich auch die Verzweiflung, läßt sich auch der Tod spielen, doch läßt sich solches spielen: Tod, Verzweiflung, Ernst? Das Ethos will absolut das Gute. Doch gibt es eine schärfere Fixierung auf sich selbst als die auf die eigene Gerechtigkeit?
Diese Grenzen spielen indessen eine andere Rolle dort, wo die Grundakte aus sich selbst, aus ihrer „Methode“ unerzwingbar und doch in einer inneren Konsequenz dessen, worum es ihnen geht, in ihren Umschlag geraten. Gemeint ist nicht der nur „horizontale“ Umschlag der Öffnung zu einer gegenseitigen Integration des einen durch den anderen. Gemeint ist vielmehr der „vertikale“ Umschlag in ihre Aporie, in ihre Selbstbescheidung und somit in ihre mögliche Selbstüberschreitung. Im Vorwort zu seinem Tractatus logico-philosophicus schreibt Wittgenstein 1918: „Dagegen scheint mir [66] die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind."1
Wie wenig damit getan ist, daß die Probleme „theoretisch“ gelöst sind: das ist kein theoretisches Resultat mehr, sondern Bemessen des Ganzen, was Theorie zu leisten vermag, indem es geleistet ist, Reflexion auf die Tragweite des Theoretischen, die sich nicht mehr aus der theoretischen Methode konstituieren läßt. Das „Was soll das alles?“ ist nun aber nicht mehr Umschlag in einen der anderen transzendentalen Grundakte, sondern Hineingeraten in die Dimension, in der alles überhaupt auf dem Spiel steht, in der es um Gewähr oder Entzug der Wirklichkeit im ganzen zu tun ist. Hier ist „Wahrheit“ in einem neuen und anderen Sinn im Spiel als in jenem, der immanent der theoretischen Betrachtung zugänglich ist. Hier ist auch das Ich-selbst im Spiel, das um der theoretischen Sauberkeit seiner Ergebnisse willen methodisch von sich absah.
Besonders „offen“ für solchen Umschlag ist ästhetisches Geschehen. Was in ihm sich niederschlägt, vermag Zeugnis zu werden und vermag Umkehr zu wirken. Dies keineswegs nur dort, wo es vom Thema oder gar von der Intention her so angelegt wäre – thematische oder gar intendierte „Bekehrungen“ mit ästhetischen Mitteln stehen in äußerster Gefahr, zur ästhetischen Perversion und in ihr zur Perversion des Gemeinten und Gewollten zu führen. Doch kann Form in sich, kann Wort als solches, kann Gestalt der Aufbruch des Unselbstverständlichen werden, in dem die Unselbstverständlichkeit meines eigenen Daseins als Anspruch und Geschenk sich eröffnet. Ein kleiner Hinweis: Rilke schließt sein in knapper Verhaltung beschreibendes Gedicht über den Torso abrupt mit der Zeile: „Du mußt dein Leben ändern."2
Die Fixierung des Ethischen auf sich selbst kann sich lösen in die Bitte um Vergebung, in die Freigabe des eigenen Selbst dahinein, nicht mehr auf sich zu bestehen, sondern aus dem eigenes Entsprechen übertreffenden Ereignis von Gericht und Gnade sich neu zu [67] empfangen. Kierkegaards „Krankheit zum Tode“ hält sich reflektierend in dieser Region auf.3
Am Ende des Vergleichs zwischen dem theoretischen, ästhetischen und ethischen Grundakt ergab sich eine eigentümliche Wendung: Der theoretische Akt kann hineingeraten in ein Erkennen der Wahrheit, das ihn zum Verstummen und das Selbst zum Einsatz bringt. Das ästhetische Mitspielen kann jener Schönheit begegnen, die das Ich betrifft und einbehält, die es nicht mehr in den Gang eines unverbindlichen Weiterspielens freiläßt. Der ethische Anspruch kann seine schärfste und zugleich verwandelte Gestalt in der Schuld offenbaren, die in die Hoffnung auf Vergebung umschlägt. In solcher je unerzwinglichen Peripetie zeigt sich uns jeweils eine gleiche Struktur. Ihr Kennzeichen ist eine dialektische Doppelgliedrigkeit. Diese finden wir vor beim Subjekt: Dieses ist je betroffen, wird aber in der Betroffenheit zugleich zur Antwort gerufen. Solche Dialektik eignet auch der Richtung des Vollzugs: Er transzendiert sich, seine bisherige Richtung fortsetzend – dabei aber widerfährt ihm eine Umkehr; die schon angeführten Beispiele illustrieren dies. Ein weiteres Mal kehrt diese Dialektik darin wieder, daß alle drei Grundakte ihrerseits in solcher Peripetie ans Ende ihres eigenen Vermögens gelangen, an ein Ende, das nicht durch neue „Unternehmungen“ aufgeholt wird – und doch bedeutet dieses Ende gerade keine Passivität, sondern Offenheit zu einer neuen actio. Sie läßt sich nur als Kommunikation, als zugleich verdankende und verhoffende, beschenkte und in Anspruch genommene Begegnung mit dem in endlichem Nennen und Definieren nicht Erreichbaren bezeichnen. Dieses Erreichbare hat seinerseits an sich selbst keineswegs nur „negativen“ Charakter; sein Charakter ist der einer unsicherbaren, unselbstverständlichen, alles bergenden und entscheidenden, so aber unbedingten Gewähr.
Diese Gewähr soll, indem sie als solche bezeichnet wird, keineswegs theologisch „vereinnahmt“ werden. Es geht nicht darum, aus der Position „wissender Religion“ zu triumphieren: also steht in den verschiedenen menschlichen Grundakten am Ende doch das göttliche Geheimnis! Allerdings muß die innere Entsprechung des [68] jeweiligen Wohin auffallen, in welches die Selbsttranszendenz aller transzendentalen Grundakte mündet. Und die Momente, die in dieser Selbsttranszendenz auftauchen, kehren – das zeigt eine Analyse des religiösen Vollzugs als solchen – im religiösen Vollzug wieder.
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Ludwig Wittgenstein, Schriften, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1963, 10. ↩︎
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Rilke, Rainer Maria: Archaischer Torso Apollos, in: Sämtliche Werke, hg. v. Rilke-Archiv, besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 1, Wiesbaden 1955, 557. ↩︎
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Vgl. bes. Kierkegaard, Sören: Die Sünde, an der Vergebung der Sünden zu zweifeln, in: Die Krankheit zum Tode und anderes, hg. v. Hermann Diem und Walter Rest, Köln 1956, 153–168, bes. 165ff. ↩︎