Die Spiritualität des Fokolar und die Theologie

Die Spiritualität des Fokolar und die Theologie

[2] Eine Epoche, die gezeichnet ist von Namen wie Balthasar und Lubac, Congar und Rahner, Schlier und Welte – um mich auf den Bereich katholischer Theologie im französischen und deutschen Sprachraum zu beschränken – , ist keineswegs als theologisch arm zu bezeichnen. Gibt es bei aller Verschiedenartigkeit der Ansätze, Richtungen und Denkstile unter den genannten Namen Verbindendes? Ja, es gibt Verbindendes, und zwar im Wie und im Was. Im Wie: Alle diese Theologen stehen gegen eine Ausklammerung des Glaubens, der Frömmigkeit, des gelebten Lebens von der Methode der Theologie. Bei aller Strenge der Forschung beschränken sie sich nicht auf diese, sondern sehen die Identität der Theologie nur gewahrt durch das „Andere“ gläubiger Existenz, geistlichen Vollzuges. Und dies ist nicht eine Voraussetzung vor der Klammer oder ein Stockwerk darüber, sondern eine innere Qualität des jeweiligen theologischen Denkens in sich. Im Was: Wenn auch in verschiedener Ausprägung und Stoßrichtung fallen zwei Inhalte, zwei Schwerpunkte bei den angegebenen Theologen auf. Man könnte, ein wenig schematisierend, die beiden Stichworte Missio und Communio nennen. Um es etwas genauer und behutsamer zu sagen: Das von Guardini signalisierte „Erwachen der Kirche in den Seelen“ als Zeichen unseres Jahrhunderts trägt und prägt die jeweilige Theologie. Kirche, Gemeinschaft des Glaubens, neues und doch altes Miteinander des Vielen und der Vielen in der katholischen Einheit werden bedacht. Und dies steht in Wechselwirkung mit etwas anderem: mit dem Eingetauchtsein der christlichen Botschaft und der gläubigen Existenz heute in einen grundlegend veränderten welthaften und kulturellen Kontext, in eine säkularisierte Welt, in ein von Gott und Christentum entfremdetes Denken. Begegnung mit dieser Welt, Auseinandersetzung mit ihr, die Frage nach Dialog, [3] Zusammengehörigkeit und Unterscheidung – dies ist die zweite inhaltlich durchgängige Linie.

Doch nun ein schwerwiegendes Aber: Sind die aufgeführten Gestalten repräsentativ für die Theologie heute? Ist ihr Werk nicht bereits abgeschlossen oder dem Abschluß nahe? Hat sich nicht nach ihnen bereits eine andere Epoche in der Theologie herausgebildet? Gewiß, Theologie ist bei diesen Namen nicht stehengeblieben. Und doch sind die genannten Stichworte – wir dürfen sagen – prophetische Themenangabe für heute und morgen. Einheit der Kirche, Einheit der Christen, Einheit der Welt und der Menschheit – in der Begegnung und Auseinandersetzung zwischen dem Glauben und den Ungläubigen, dem christlichen Erbe und einer ihm entfremdeten Gegenwart, darum geht es doch. Auch bei jenen, die ganz andere Lösungen und Konzeptionen vorschlagen als diese unter sich ja durchaus in nicht wenigem kontrovers argumentierenden Theologen. Und daß Theologie Wissenschaft ist, indem sie „andere“ Wissenschaft ist, daß Theologie nur dann nicht unfruchtbar wird und vertrocknet, wenn sie vom Leben gezeugt ist und Leben zeugt – wie bedrängend erfahren wir dies!

Es wäre falsch, zu beklagen, daß wir Heutige den Rang, den weiten Atem, den Mut zum Ganzen nicht mehr einzulösen scheinen, den diese „Väter“ uns überliefern. Und doch können wir uns dem kritischen Maß, das sie für uns setzen, auch nicht entziehen. Steht Theologie heute nicht in einer doppelten Versuchung: zum einen in der Versuchung, sich auf differenzierte und notwendige Einzeluntersuchungen zu beschränken, ohne im Blick zu haben, was ihre Methode und ihr Ergebnis fürs Gesamt der Theologie und des Glaubens besagen und nicht besagen; zum andern in der Versuchung, aus berechtigten Anliegen und Impulsen, Beobachtungen und Perspektiven sofort ein Gesamtsystem, eine Gesamtschau zu versuchen, die dann Züge des Ideologischen an sich nehmen? Theologie ist mehr als Summe und anderes als Ideologie. Sie entsteht nicht aus [4] der Addition einzelner Richtigkeiten und Wichtigkeiten, sie darf nicht einen richtigen Ansatz „haben“ und aus ihm das Ganze konstruieren, sondern muß sich je offenhalten im unabschließbaren Hinein- hören ins unveräußerliche, ein für allemal und ganz gegebene, aber je größere und so zugleich je selbe und je neue Wort Gottes.

Wir sagten: Theologie ist mehr als Addition und anderes als ideologisches System. Wir müssen sagen: Kirche, Gemeinschaft, Communio und Missio, Begegnung und Dialog sind mehr als Addition oder ideologisches System. Es geht sowohl in der Ordnung der Begegnung mit der Welt, mit den „anderen“, wie in der inneren Lebendigkeit und Gemeinschaft von Kirche um die rechte Einheit, um jene Einheit, die alle und alles im Glauben nach innen hin zusammenbindet und zugleich die Einheit der Welt, die Einheit der Menschheit ermöglicht, somit aber auch Dialog, Begegnung, Bezeugung, Missio ermöglicht. Es geht um jene Einheit in der Außen- und Innendimension, wie sie der Anfang von Lumen Gentium in einzigartigerweise als Grundbotschaft des Glaubens, Grundaufgabe der Kirche und Grundproblem unserer Zeit erhellt. Und diese Einheit eben ist keine bloße Denkaufgabe, sondern als Denkaufgabe zuerst und zutiefst geistliche Aufgabe: Einheit aus dem Geist. Nur diese Einheit ist der Gegensatz zur äußeren Summierung oder zur ideologischen Verfestigung, zu einem Gesamtsystem, das von einem fixierten Ansatz aus „machbar“ ist.

Wir können und müssen freilich sagen: beide Versuchungen, die wir nannten, beide falschen Alternativen – additive oder ideologisch- systematische Einheit – gehen auf eine gemeinsame Wurzel zurück, auf die Ideologie. Denn wer die Reflexion über die Voraussetzungen ausblendet und der bloßen „sachlichen Richtigkeit“ seiner Einzelerkenntnisse traut, der setzt ja eine abstrakte Sachlichkeit absolut, blendet die Reflexion auf die Voraussetzungen aus, die sie allein konstituieren und rechtfertigen, aber auch begrenzen und erweitern können, so daß er wider Willen und [5] ohne es zu merken doch genau den Tatbestand der Ideologie erfüllt: Immunisierung einer einzelnen, in sich möglicherweise durchaus richtigen Erkenntnis als absolutes Vorurteil, von dem aus das Ganze in den Griff zu bekommen ist.

Wenn wir freilich in die Welt heute hineinblicken, werden wir entdecken: das Ideologieproblem, das Problem der Einheit, die entweder verweigert wird oder aber nur ideologisch zustande kommt und somit von innen her verfehlt wird, ist das Grundproblem der Menschheit. Es gibt ausdrückliche Ideologien, die den Sinn und die Zukunft der Menschheit steuern wollen, es gibt die implizite Ideologie eines technischen Apparates, der sich selbst überlassen, scheinbar pragmatisch, das Bild vom Menschen und damit seine Zukunft festlegt. Wo liegt die Alternative?

Die innertheologische Frage nach jener Einheit, die aus dem Geist Communio und Missio, innere Gemeinschaft und nach außen hin Zeugnis und Dialog ermöglicht, wird zum säkularen Problem unserer Stunde.

Wir müssen die zwei Grundlinien, die uns am Anfang, beim Blick auf die „Väter“ der theologischen Epoche, aufgefallen waren, nochmals weiterziehen, um für unsere theologische Gegenwartsaufgabe, die keine bloß innertheologische ist, Konsequenzen aufzuspüren.

Entfalten wir zunächst zwei Thesen.

  1. These: An den Knotenpunkten der Kirchen- und Weltgeschichte, besser: der Geschichte der Kirche in der Welt und mit der Welt, stellte sich immer wieder und immer neu das Grundproblem der Einheit.

  2. These: Große Theologie erwuchs immer aus einem geistlichen Weg; geistlicher Weg ist die Alternative zur Ideologie.