Proportio aequalitatis – eine Erwägung zu Bonaventura, Itinerarium II 6

Die Spitze des Gedankens

Was ist nun die Relevanz dieser Überlegung für das Ziel, um dessentwillen sie angestellt wurde, für den Aufgang als solchen in den Dingen?

Vorab: Es geht, wie im Grunde bereits aus den generellen Angaben über das Itinerarium zu erschließen ist, Bonaventura nicht um „Gottesbeweise“, sondern um das Aufzeigen des Ortes einer Begegnung mit Gott, deren das Denken inne wird und über die es sich Rechenschaft ablegt.

Thomas von Aquin sagt von der Seele, sie sei: „nata convenire cum omni ente“.1 Die bonaventuranische Sicht hebt hier zugleich und zuerst das Gegenläufige, Komplementäre hervor: das Sein des Seienden ist angelegt auf das Ineinskommen mit dem Wahrnehmen und Erkennen. Das Seiende ist, was es ist, in dieser Begegnung, die ihre Spitze im Genuß erreicht – und in dieser Spitze öffnet sich zugleich Begegnung mit dem göttlichen Geheimnis des Ursprungs und der Erfüllung.

Wie aber sieht eine solche Begegnung aus, die ansetzt bei der proportio aequalitatis? Aus einem späteren Kontext sei eine Radikalisierung des Gedankens eingeblendet.2 Hier bezieht sich Bonaventura auf die Zahlenlehre des Augustinus in seinem Buch „De Vera Religione“ und im sechsten Buch der Schrift „Über die Musik“. Wenn da von Zahlen die Rede ist, so sind nicht so sehr die natürlichen Zahlen im Blick als vielmehr Verhältnisse, Rhythmen, zahlhafte Fügungen und deren Prinzip, jene Zahlhaftigkeit, die Gleichwertigkeit der Zahlen mit ihrer unterschiedlichen Position, Einmaligkeit und Unterschiedenheit mit ihrer Kontinuität verbindet, Zahlhaftigkeit als das Ordnende des Ineinander und Auseinander alles Wahrnehmbaren und, fundamentaler gefaßt, auch alles Denkbaren. In Itinerarium II 10 lesen wir nun den Satz: „Cum igitur omnia sint pulcra et quodam modo delectabilia; et pulcritudo et delectatio non sint absque proportione; et proportio primo sit in numeris: necesse est, omnia esse nume-rosa; ...“

Bonaventura fügt damit der klassischen Tafel der transzendentalen Bestimmungen zwei weitere hinzu, jene der Schönheit und jene der Zahlhaftigkeit. Schönheit ist hier nicht, wie in den Abschnitten II 5 und 6, im engeren Sinne gefaßt, neben Maßhaftigkeit und Heilsamkeit zu setzen, sondern umgreift diese; denn auch sie entfalten jene Konvenienz zwischen „Sein“ und „Seele“, die sich eben nicht nur im Erkennen (verum) und Streben (bonum), sondern auch in beider Synthesis im Wohlgefallen ereignet.

[207] Bonaventura sieht die transzendentale Bestimmung des Schönen (pulcrum) sich gründen in jener des Zahlhaften (numerosum), weil „Zahl“ (als zählende, nicht bloß gezählte Zahl) ineinsfügend und gliedernd das Sein im Ganzen durchstimmt, seine nicht nur kategoriale Relationalität bezeichnet.

Von hier aus können wir in die Erwägungen des Abschnitts II 6 zurückkehren. Proportio als aequalitas hat es nun an sich, dieselbe zu sein, unabhängig von der quantitativen Beschaffenheit der Glieder, zwischen denen sie waltet. Hier begegnen wir einer Weise von Beziehung, die zwar die Pole innerlich bestimmt, aber nicht vom Gewicht der Pole in sich bestimmt ist. Wir begegnen also einer Beziehung, die ihren Polen voraufgeht, sie innerlich qualifiziert und insofern konstituiert. In solchem Konstituieren und Qualifizieren ist sie zugleich in den Polen und ihnen vorenthalten, über sie erhaben. Das Verhältnis der Gleichheit (proportio aequalitatis) „ist aber dasselbe in großen wie in kleinen Dingen. Es weitet sich nicht mit der Ausdehnung, noch hat es ein Nacheinander oder geht es mit dem Vergänglichen vorüber, noch wird es durch Bewegungen verändert. Es ist also von Ort, Zeit und Bewegung unabhängig und somit unveränderlich, unbegrenzt, ohne Ende und ganz geistig.“3 In der proportio, die das Verhältnis bestimmt, in welchem im ästhetischen Akt das Seiende durch sein wirkendes Bild und der Wahrnehmende im Genuß übereinkommmen, leuchtet also von den Polen als solchen Unabhängiges, ja von allen endlichen Bestimmungen Abgelöstes, nicht Abstrahiertes, sondern Waltendes, Sich-Zusprechendes auf. In dem so verstandenen ästhetischen Akt werden wir mitgenommen in den Übergang zu einer anderen Ordnung oder besser in den Einbruch einer anderen Ordnung – und es ist in den Kontexten eines Bonaventura unmittelbar einsichtig, daß hier vom Aufgang Gottes selber die Rede sein muß. „Ganz unveränderlich, unumgrenzbar und unendlich aber ist nur das Ewige. Alles aber, was ewig ist, ist Gott oder in Gott.“4


  1. Von Aquin, Thomas: Quaestiones disputatae de Veritate, I 1. ↩︎

  2. Vgl. Itinerarium II 10. ↩︎

  3. Bonaventura: Pilgerbuch der Seele zu Gott, übers. v. Kaup, Julian, München 1961, 81. ↩︎

  4. Bonaventura: Pilgerbuch der Seele zu Gott, übers. v. Kaup, Julian, München 1961, 85. ↩︎